SKH "Artur Becker" in Sigrön - Tagesablauf

Der Tagesablauf im SKH Artur Becker“ in Sigrön

im Schuljahr 1976/77 (Klasse / Gruppe 4a) und im Schuljahr 1977/78 (Klasse / Gruppe 5a)



Teil I: Montag bis Samstag vom Aufstehen bis zur Schule gehen

Teil II: Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag am Nachmittag

Teil III: Der Mittwoch am Nachmittag

Teil IV: Der Samstag am Nachmittag

Teil V: Der Sonntag und der Feiertag

Teil VI: Der Ferientag (noch nicht fertig, wird demnächst noch angefügt)



Teil I: Montag bis Samstag vom Aufstehen bis zur Schule gehen


Wer hat noch den Tagesablauf im Kopf? Einige von uns werden sich wohl sagen: „Was soll’s, ist doch unwichtig.“ Oder sie fragen sich: „Wem nützt es?“ Ich gebe allen Recht, an der Vergangenheit festzukleben ist hinderlich für die Zukunft. Und denn noch; ich hänge gerne mal in der Vergangenheit rum. Schließlich ist diese ein Teil meiner Kindheit. Mein Prestige, mein Können und mein Handeln, Heute und in Zukunft; alles hat dort seinen Ursprung; und dazu gehört auch das Spezialkinderheim „Artur Becker“ in Sigrön. Nun aber zum Thema.


o6:oo Uhr

Morgens, es war so gegen o6:oo Uhr, da flog die Schlafraumtür auf und der GvD (Gruppenführer vom Dienst) rief: „Guten Morgen. Aufstehen und antreten zum Waschen.“ Nun sprang ein Jeder, mehr oder weniger munter, aus dem Bett; ein Junge aus unserem Schlafraum öffnete das Fenster (im Sommer, wie auch im Winter); jeder zog sein Pyjamahemd aus und legte es auf seinem Bett ab; jeder schnappte sich seine Waschtasche aus seinem Nachtschrank und stellte sich, nur noch mit der Pyjamahose bekleidet, auf dem Flur auf. Das Ganze dauerte wohl keine Minute. Der GvD stellte die Vollzähligkeit fest und führte uns dann in den Keller, in dem die beiden Waschräume mit den Terrazzo- Waschtrögen, die Groß- Toilettenanlage und der Raum für die Handtücher sowie für die Straßenschuhe bzw. die Hauslatschen sich befanden.

Zu diesem Zeitpunkt war immer ein großes Gewusel auf den Fluren, im Treppenhaus und im Keller. Das Heim hatte ja, zu meiner Zeit jedenfalls, vier Gruppen beherbergt. Im ersten Jahr meines Daseins, war es die Gruppe 3, die Gruppe 4a (der ich im Schuljahr 1976/77 angehörte), die Gruppe 4b und die Gruppe 5. Im zweiten Jahr, rutschten die Gruppenstufen weiter. Also die Gruppe 4, die Gruppe 5a (der ich dann 1977/78 angehörte), die Gruppe 5b und die Gruppe 6.

In den Waschräumen und der Toilette gab es ebenfalls immer ein Durcheinander, weil ja zwei Gruppen in einem Waschraum sich befanden. Auf der riesigen Toilettenanlage mit den dutzenden Pinkelbecken und den unzähligen Klobecken war dann ein Jeder mal von den vier Gruppen drauf. Eine Intimsphäre gab es nicht. Die Klobecken waren nur durch eine halbhohe Wand voneinander getrennt und hatten keine Tür. Die Pinkelbecken hatten überhaupt keine Abtrennung. Mich hatte das auch nie gestört. Wir sahen uns doch andauernd nackt. Beim Umziehen zum Sportunterricht, beim Waschen, beim Duschen und so weiter, und so fort. Wir sind halt so aufgewachsen.

Aber irgendwie war dieses Durcheinander; auf den Fluren, im Treppenhaus und im Keller; geordnet und fest im Tagesablauf integriert. Der GvD hatte halt für eine gewisse Disziplin zu sorgen. Nach dem allmorgendlichen Toilettengang und der allmorgendlichen Hygiene, führte uns der GvD wieder zu unseren Schlafräumen zurück. Der Gruppenraum und die Schlafräume befand sich, als ich in der Gruppe 4a war, in der 1. Etage ganz hinten; als ich dann in der Gruppe 5a war, im Dachgeschoss, ebenfalls im hinteren Bereich.


o6:25 Uhr

Nachdem wir wieder vom Waschen und vom Toilettengang zurück in das Dachgeschoss angelangt waren, hieß es vom GvD: „Bett machen, anziehen, Dienstaufgabe erledigen und auf dem Gang antreten. Zeit: 35 Minuten“.

Wir machten unsere Betten, stopften fein säuberlich den Pyjama in das gefaltete Kissen und zogen uns an. Auf den Nachttischen lagen exakt gefaltete Päckchen; so nannten wir unsere, am Vorabend zurechtgelegte Kleidung. Diese nahmen wir und zogen uns an.

Jeder von uns hatte eine wöchentliche Aufgabe zugeteilt bekommen, den sogenannten Dienst. Da gab’s den Schlafzimmerdienst, den Gruppenraumdienst, den WC- Dienst, den Toilettendienst, den Tischdienst und noch viele mehr. Die Schlafraumdienste kümmerte sich um die Ordnung in den Schlafräumen, der Tagesraumdienst um die Ordnung im Tagesraum, der Flurdienst um die Ordnung im Flur und der WC- Dienst putzte das WC, welches sich beim Treppenpodest zwischen der ersten und der oberen Etage befand. Ein für uns wichtiger Dienst, war der Tischdienst. Zwei Jungs waren dazu eingeteilt.

Der Tischdienst, zwei Jungs aus unserer Gruppe; der hatte seinen eigenen Tagesanfang. Sie standen zwar mit uns auf, aber sie teilten sich die Zeit selber ein. Sie warteten nicht, bis die ganze Gruppe mit den einzelnen Aufgaben fertig war. Sie gingen nach dem Aufstehen gleich runter um sich zu waschen, gingen alleine ohne die Gruppe wieder hoch um ihre Betten zu bauen und gingen dann zu ihrer Aufgabe des Tischdienstes über. Der Tisch sollte ja fertig gedeckt sein, wenn die Gruppe zum Frühstücken erscheint.


o7:oo Uhr

Um o7:oo Uhr rückten wir zum Frühstück ab. An diese Uhrzeit im Tagesablauf erinnere ich mich noch sehr lebhaft, denn: Auf dem oberen Flur stand ein Radio. Dieses lief vom Aufstehen bis zum Frühstückengehen. Um fünf Minuten vor o7:oo Uhr lief von montags bis freitags ein morgendliches Hörspiel namens „Was ist denn heut‘ bei Finding‘s los?“. Ich hörte sie ganz gerne; also beeilte ich mich, um den Anfang nicht zu verpassen. Der GvD kontrollierte den Bettenbau, vergab Noten für die Dienstaufgabe und Punkte bzw. Striche für auffälliges positives bzw. auffällig negatives Verhalten.

Der Speisesaal befand sich in der Parterre. Eigentlich waren es zwei riesige Räume, die mit einer riesigen mehrflügeligen Tür verbunden waren. Die Sockel der Wände waren mit dunklem Holz verkleidet. Gleich neben dem Eingang in den ersten Raum war die Essensausgabe.

Ein Jeder hatte in den kühleren und kalten Jahreszeiten seine Jacke unter dem Arm. Wieder waren das Treppenhaus und die Flure gerammelt voll, denn alle vier Gruppen rückten ja fast gleichzeitig an. Wir saßen im hinteren Teil des Speisesaales an mehreren Tischen. Dort angelangt, stellte sich ein Jeder hinter seinem Platz bis es hieß: „Setzen“ und auf: „Guten Appetit“ wurde gegessen. Der Tischdienst deckte sie zum Frühstück und zum Abendbrot ein.

Das Küchenpersonal hatte die Menüplatten für jeden Tisch angerichtet. Am Vierertisch lagen zum Frühstück dann gewissermaßen 8 Stückchen Butter (meistens waren es Sternchen), 4 Scheiben Mischbrot, 4 Scheiben Weizenbrot, 4 Scheiben Wurst oder auch Käse und ein Schüsselchen mit Marmelade auf der Menüplatte. Dazu gab’s ‘ne Kanne Kaffee. Naja, diesen Kaffeesugeratextrakt, den Muckefuck. Und es wird wohl kaum einer glauben; ich trinke ihn heute noch gerne. Natürlich ein Kännchen Milch für den Muckefuck war auch dabei. Den Zucker ließ man weg, glaube ich.

Nun gut, wie schon erwähnt, punkt o7:oo Uhr rückten wir zum Frühstück ab. Natürlich war es eine kleine Zeremonie, wie wir in den Speisesaal einrückten. Irgendwie war es wie eine Perlenschnur. Einer hinter dem Anderen. Ein Jeder von uns stellte sich hinter seinen Sitzplatz und hing seine Jacke über die Stuhllehne. Dann kam die Aufforderung: „Setzen!“ vom GvD. Wir setzten uns dann auch brav hin, mit den Händen auf den Tisch. Ab da an herrschte absolute Stille. Der Erzieher war nun auch endlich eingetrudelt und es kam von ihm ein: „Guten Appetit.“ Aber erst, wenn alle vier Gruppen nun endlich Platz genommen hatten.

Vom Aufstehen bis zum Frühstücken hatten wir faktisch keinen Erzieher. Der GvD war sozusagen unser Erzieher und Aufpasser. Jede Gruppe hatte ja seinen eigenen GvD. Es war zwar ein Erzieher da, aber für jede Etage nur einer. Im 1. Obergeschoß waren zwei Gruppen und im Dachgeschoss waren die anderen zwei Gruppen untergebracht. Es kam auch öfter vor, dass nur ein Erzieher für alle vier Gruppen am Morgen zuständig war. Uns fiel es aber gar nicht so sehr auf. Wir waren Selbstläufer. Und durch den GvD, der ja einer von uns war, funktionierte es ja auch. Wir waren morgens in so einer Art Selbstständigkeits-Trance. Für die Routine, da brauchten wir keinen Erzieher. Ob nun zwei, oder gar nur ein Erzieher anwesend war, stellten wir erst beim Frühstücken fest.

Beim Essen herrschte absolute Stille. Keiner redete oder hampelte rum. Die Erzieher saßen mit an einem Tisch unserer Gruppe und frühstückten mit. Soweit ich’s noch in der Erinnerung habe, hatten sie das gleiche Essen wie wir. Natürlich mit einer Ausnahme; sie hatten ein Kännchen echten Bohnenkaffee.

Sollte einer von uns dann doch mal gequatscht oder sich um das größere Stückchen Wurst gerangelt haben, dann gab’s vom Erzieher eine Strafe. Sie bestand meistens darin, dass derjenige der quatschte, oder diejenigen die sich rangelten, aufstehen und sich hinter den Stuhl stellen durften. Für diejenigen war das Frühstück dann beendet. Die höfliche Frage: „Reiche mir mal bitte die Kanne mit dem Kaffee rüber.“ zählte nicht als Gequatsche. Ganz im Gegenteil; das war ein Teil unserer Erziehung.

Ein oder zwei Minuten vor dem Ende der Frühstückszeit sagte der Erzieher: „Mit dem Essen fertig werden und das Geschirr zusammenstellen.“ Nun schluckten wir unseren letzten Happen runter und stellten das Geschirr auch zusammen. Der Tischdienst hatte dann ein leichteres Abräumen. Da wir ja immer alles aufgegessen hatten, stellten wir das ganze Geschirr auf die leere Menüplatte. Der Tischdienst stellte diese dann bei der Essensausgabe ab. Er wischte noch die Tische ab und fand gleich den Anschluss an seine Gruppe, die dann schon auf dem Weg zur Schule war.


o7:3o Uhr

Bevor es jedoch zur Schule ging, ging es wieder in den Keller. Auf der linken Seite, neben dem zweiten Waschraum, wurde für unsere Handtücher und unsere Straßenschuhe, ein Raum eingerichtet. In der Mitte des Raumes hing ein Gestell von der Decke herunter. An diesem waren unzählig viele Haken angebracht. Dort hingen unsere Handtücher dran. Auf dem Boden standen Schuhpodeste; ringsum, an den Wänden verteilt. Dort standen unsere Straßenschuhe drauf. Wir wechselten unsere Hauslatschen mit den Straßenschuhen und dann ging‘s zur Schule.

Selbstverständlich hatten wir einen Weg für die Schüler, den sogenannten Schülerweg; einen für die Lehrer, denn sogenannten Lehrerweg. Der Lehrerweg führte links, an den Tiergehegen, und der Schülerweg rechts am Teich vorbei.

An der Schule empfing uns dann der Lehrer der ersten Unterrichtsstunde des jeweiligen Schultages. Am Montag bis Samstag begann pünktlich um o7:45 Uhr der Unterricht.

An besonderen Tagen begann der Unterricht um o8:o5 Uhr. Am ersten Schultag des Schuljahres, am letzten Schultag vor den Ferien, am ersten Schultag nach den Ferien, am „Gründungstag der Deutschen Demokratischen Republik [o7.Okt.]“, am „Tag der Oktoberrevolution in Russland [o7.Nov.]“, am „Tag der Nationalen Volksarmee [o1.März]“, am „Internationalen Frauentag [o8.März]“, am „Kampf- und Feiertag der Werktätigen [o1.Mai]“, am „Tag der Befreiung vom Hitler- Faschismus [o8.Mai]“ und sicherlich noch an vielen anderen Tagen auch, wurde ein Fahnenapell abgehalten. Diese 2o Minuten wurden für diesen Fahnenapell gebraucht. Unsere erste Unterrichtsstunde verkürzte sich dann und wurde eigentlich nur noch für die Kontrolle der Hausaufgaben genutzt.


Teil II: Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag am Nachmittag


o7:45 Uhr bis 13:35 Uhr Schule

In meinen alten Schulsachen fand ich den Unterrichtszeitplan für das Schuljahr 1977/78 (ich war da in der Klasse 5a). Die Zeiten waren, wie folgt, so im Hausaufgabenheft vermerkt:

o7:45 Uhr bis o8:3o Uhr 1. Unterrichtsstunde (Mo. - Sa.)

kleine Pause

o8:4o Uhr bis o9:25 Uhr 2. Unterrichtsstunde (Mo. - Sa.)

Milchpause

o9:45 Uhr bis 1o:3o Uhr 3. Unterrichtsstunde (Mo. - Sa.)

kleine Pause

1o:4o Uhr bis 11:25 Uhr 4. Unterrichtsstunde (Mo. - Sa.)

kleine Pause

11:35 Uhr bis 12:2o Uhr 5. Unterrichtsstunde (Mo. - Fr.)

Mittagspause

12:5o Uhr bis 13:35 Uhr 6. Unterrichtsstunde (Mo. - Fr.)


13:35 Uhr Übergabe der Schüler an den Erzieher

Meistens kamen die Erzieher etwas später. Alle vier Gruppen rannten auf dem Pausenhof und dem angrenzenden Fußballfeld umher. Sie gönnten es uns. Außerdem mussten die Gruppen zeitlich versetzt losgehen, sodass nicht alle vier Gruppen gleichzeitig im Keller die Schuhe wechseln mussten. So groß war der Keller nun auch wieder nicht.

Aber es hieß dann bald auch für unsere Gruppe: „In Zweierreihe antreten!“, das rief meistens der GvD (Gruppenführer vom Dienst) und wir gingen zurück in das Heim. Geordnet und gesittet, und natürlich auf dem Schülerweg, der von der Schule aus gesehen, links am Teich vorbei führte. An diesem Weg stand auch eine Vogelvoliere mit allerlei Sittichen. Und Egon (der Pfau), der ja eigentlich immer Freigang hatte und im Gelände umher spazierte; den trafen wir auch öfters.


13:4o Uhr Ankunft im Heim

Im Heim angekommen, zogen wir uns erst einmal um. Im Keller, auf der linken Seite, neben dem zweiten Waschraum, wurde für unsere Handtücher, unsere Hauslatschen und unsere Straßenschuhe, ein Raum eingerichtet. In der Mitte des Raumes hing ein Gestell von der Decke herunter. An diesem waren unzählig viele Haken angebracht. Dort hingen unsere Handtücher dran. Auf dem Boden standen Schuhpodeste; ringsum, an den Wänden verteilt. Dort standen unsere Hauslatschen oder unsere Straßenschuhe drauf.

Wir wechselten unsere Straßenschuhe mit den Hauslatschen und ein Jeder der mal auf die Toilette musste, verschwand auf der riesigen Toilettenanlage mit den dutzenden Pinkelbecken und den unzähligen Kloschüsseln. Natürlich war auch das Hände- und Gesichtwaschen nach der Schule ein fest eingebautes Ritual.

Danach ging es hoch in unsere Schlafräume. Dort wechselten wir dann die Schulkleidung mit der Alltagskleidung. Die Schulhose und das Schulhemd wurden säuberlich zusammengelegt. Die Alltagshose und das Alltagshemd nahmen wir aus dem Nachtschrank heraus. Auf dem sich darin befindlichen Trainingsanzug legten wir dann die gefaltete Schulkleidung ab. Die Schulkleidung sowie der im Nachtschrank befindliche Trainingsanzug, wurden auf die exakt gleiche Breite und die exakt gleiche Tiefe zusammengelegt.

Wir hatten nämlich für die Schule und für den Alltag verschiedene Kleidung. Die Schulkleidung war eigentlich nichts Besonderes. Nun gut, sie war neuer. Es war keine Schuluniform oder Ähnliches; sie wurde halt nur in der Schule getragen. Die Alltagskleidung war meistens auch nicht die neueste Bekleidung und besaß hier und da schon mal einen Flicken.


ab etwa 14:oo Uhr Freizeit

Bis zum Vesper hatten wir etwas Freizeit. Einige spielten Karten, das sogenannte Krieg und Frieden; das bei fünf Spieler und zweieinhalb ineinander gemischten Romméblätter, Monate bis zum Sieg dauern konnte. Andere lasen Bücher. Wiederum Andere holten Brettspiele, wie Dame, Mühle oder auch Schach, aus den Schränken. Und dann gab‘s halt auch welche, die aus Stabilbaukästen irgendwelche Gerätschaften bauten.

Diese reichliche Stunde Freizeit verbrachten wir meistens im Gruppenraum. Bei unsagbar schönem Wetter verbrachten wir diese Freizeitstunde an der frischen Luft. Jedoch wollten meine Kameraden, dann immer nur Fußball spielen.

Ich war nie ein Fußballspieler, bin es auch heute nicht und werde es auch in Zukunft niemals sein. Zum Glück hatte ich da noch einen Mitstreiter; der Axel S. war auch nicht sehr davon angetan. Somit war die Zahl der Mitspieler wieder eine gerade Zahl (wir waren ja 16 Jungs), und sie konnten zwei Mannschaften bilden. Je Mannschaft, einen im Tor und sechs auf dem Feld. Einen Schiedsrichter brauchten sie nicht; sie regelten alles während des Spieles untereinander.

Axel S. und ich spielten meistens Krieg und Frieden am Rande des Fußballplatzes. Wir rannten nicht mit irgendeinem Knüppel als Maschinengewehr rum und erschossen uns gegenseitig. Nein, … das war ein Kartenspiel. Dass Kinder mit irgendwelchen Spielzeugwaffen spielen, finde ich abartig. Wasserpistolen, die in den Augen der Kinder irgendwelche Pumpguns, Leaserpistolen, Colds oder irgendwelche andere Superwaffen sind, werden auf andere Personen gerichtet. Waffen die töten, und das wissen die Kinder schon, als Spielzeug mit seinen Kameraden. Sie Spielen „Ich schieße dich ab“. Was ist das für eine Welt? Sie spielen „Meinen Kumpel töten“. Aber warum soll man seinen Kumpel töten? Ich hab’s damals schon nicht verstanden und werde es wahrscheinlich nie verstehen. Auch das Alleinspielzeug ist vielfach Spielzeug mit Militärtechnik. Bobby- Cars in Form eines Panzers, ferngesteuerte Militärfahrzeuge, Matchbox- LKW’s mit Raketenabschussbasis und noch vieles Abartiges mehr. Meinetwegen kann dieser ganze Müll, zu meist aus Plaste bestehend, eingeschmolzen werden und man hat genügend Material um sinnvolles für den Alltag herzustellen.

Es geht in diesem Kartenspiel darum, alle Karten des Mitspielers zu bekommen. Der Name Krieg und Frieden ist, aus meiner Sicht, ungünstig gewählt. Aber so heißt es nun mal.

Jeder Mitspieler bekommt anfangs ein halbes Romméblatt. Der Eine den roten Rücken, der Andere den blauen. Somit hat ein Jeder das gleiche Blatt. Also: das As, die 2, die 3, die 4, die 5, die 6, die 7, die 8, die 9, die 10, den Bube, die Dame und den König. Und das Ganze in Pik, Karo, Herz und Kreuz. Die Joker werden nicht gebraucht und aussortiert. Die Werte der Zahlenkarten entsprechen ihrer dargestellten Zahl. Der Wert des Asses entspricht 1, der Wert des Buben entspricht 11, der Wert der Dame entspricht 12 und der Wert des Königs entspricht 13.

Nun mischt ein Jeder seine Karten und hält sie, mit dem Rücken nach oben, als Stapel in der Hand und darf sich sein Blatt nicht mehr ansehen. Dann legt der Eine, eine Karte von diesem in der Hand gehaltenen Stapel, vor sich verdeckt ab, und darüber die nächste aufgedeckt (zum Beispiel Herz Bube). Dann legt der Andere, eine Karte von seinem in der Hand gehaltenen Stapel, vor sich verdeckt ab, und darüber die nächste aufgedeckt (zum Beispiel Kreuz Dame).

Nun vergleicht man die beiden aufgedeckten Karten miteinander. Die Symbole (Pik, Karo, Herz, Kreuz) sind unbedeutend. Die Dame (Wert 12) ist höher als der Bube (Wert 11), also gehen alle vier gelegten Karten an denjenigen, der die Dame gelegt hat. Nun legt wieder ein Jeder eine Karte verdeckt und eine aufgedeckt vor sich ab. Es wird wieder verglichen und alle gelegten Karten gehen wieder an denjenigen, der die höhere Karte aufgedeckt gelegt hat.

Liegen zwei gleichrangige Karten aufgedeckt vor, so heißt es dann Frieden. Auf diesen wird dann wieder eine verdeckte und eine aufgedeckte Karte von jedem Mitspieler gelegt, es wird verglichen und der mit der höchsten Karte kassierte alle acht Karten ein. Sollte nun wieder ein zweiter Frieden entstehen, wird wieder von jedem Mitspieler eine Karte verdeckt, und eine Karte aufgedeckt, abgelegt. Wer dann die höchste Karte gelegt hat, bekommt dann alle zwölf Karten. Diese Situation ist selten, kommt aber dennoch vor.

Die Karten, die gewonnen werden, werden vom jeweiligen Mitspieler beiseitegelegt. Erst wenn der Spieler keine Karten mehr in der Hand hält, nimmt er den gewonnenen Stapel, mischt ihn und spielt damit weiter. Irgendwann hat ein Mitspieler alle Karten gewonnen.

Oftmals wurde der Axel S. gehänselt. Seine Figur war nicht gerade sportlich und die meisten dachten, er wäre ein kleiner Fresssack. Nun ja, ein Fresssack war er nicht. Wir hatten doch alle die gleiche Menge an Nahrung und das gleiche Essen. Keinem wurde ein Extrawürstchen gebraten. Als dann irgendwer von den Erziehern auf die Idee kam, ihn auf Diät zu setzen, war die Solidarität in unserer Gruppe unbeschreiblich groß.

Er bekam immer nur die Hälfte. Zum Frühstück eine Scheibe Brot mit einer Scheibe Käse oder auch Wurst, in der Milchpause der Schule bekam er eine kleine Tasse Milch und das Pausenbrot fiel weg, zu Mittag nur die halbe Portion, zum Vesper ein Viertel eines Klappschnittchen, zum Abendbrot wieder nur eine Scheibe Brot. Wer soll davon satt werden? Einige unserer Gruppe steckten ihm immer was zu.

Das Pausenbrot in der Schule bestand aus einer Scheibe Brot (zusammengeklappt) und etwas Obst (wie beispielsweise Äpfel, Birnen, einigen Pflaumen, und ja! auch hin und wieder Bananen, Mandarinen und Apfelsinen) oder Rohgemüse (wie beispielsweise Gurken, Mohrrüben oder Kohlrabi) und dazu die kleine Flasche Milch. Fast ein Jeder gab Axel S. von seinem Pausenbrot was ab. Er war dabei sehr diszipliniert. Er nahm nie mehr an, als die anderen als Menge bekommen haben. Das machte ihn sympathisch.

Die Lehrer haben es natürlich mitbekommen, dass einige aus unserer Gruppe das Pausenbrot mit Axel S. teilten. Sie schauten weg; sie taten so, als ginge sie das gar nichts an. Sie bekamen mit, dass seine schulischen Leistungen durch diesen drastischen Nahrungsentzug litten. Aber es gab leider auch Petzer unter uns; die, die es den Erziehern unbedingt erzählen mussten. Am Rand vom Schulhof, hinter einem Busch, wurden diese dann schlagkräftig von einigen Kameraden in der Pause zur Ordnung gerufen. Wir wussten, unsere Lehrer schauten weg.


15:oo Uhr Vesper

Vorher wurde natürlich das Aufräumen des Gruppenraumes erledigt. Der Tischdienst hat den Vesperkorb (ein Korb aus stabilen Plaste mit einem Deckel, einem breiten viereckigen Eimer ähnlich) aus der Küche herangeschafft. Im Vesperkorb lag auf dem Boden unserer Getränke und ein Flaschenöffner. Es waren kleine 0,2- Liter- Glasflaschen mit Kronkorkenverschluss. Sie waren mit Obst- oder auch Gemüsesäften gefüllt. Unsere Vesper war für jeden ein Klappschnittchen welches mit Wurst, Käse oder manchmal mit Kunsthonig belegt war. Diese lagen, durch ein sauberes weißes Tuch getrennt, auf einer Hälfte des Vesperkorbes, über den Flaschen. Auf der anderen Hälfte lag dann das Obst bzw. das Gemüse. Darüber war wiederum ein sauberes weißes Tuch. Obenauf dann der Deckel, der mit einer Art Acrylfarbe beschriftet war (bei uns stand da 4a bzw. 5a drauf).

Das jedes einzelne Schnittchen mit Alufolie, Frischhaltefolie oder mit Butterbrotpapier eingewickelt war, gab’s nicht. So ein Verpackungsaufwand, wie er heutzutage betrieben wird, wurde einfach nicht gemacht. Die Getränke passten geschmacklich meistens nicht zum Klappschnittchen das mit Kunsthonig belegt war.

Der Kunsthonig war von ganz besonderer Art. Es war Kunsthonig mit 30% Bienenhonig. Also faktisch 60% Zucker, 10% Wasser und 30% Bienenhonig. Jeder kann sich vorstellen, wie streichfähig dieser war. Am besten ging es, schnitt man diesen in dünnen Scheiben und belegte damit sein Brot oder Brötchen. Geschmeckt hat mir dieser Honig immer. Das Getränk, beispielsweise einen Selleriesaft, passte überhaupt nicht dazu. Obwohl: gab es Möhrensaft dazu, war es geschmacklich sehr gut.


15:2o Uhr Hausaufgaben und anschließende Freizeit

Um 15:2o Uhr ging es wieder rüber zur Schule, ohne unsere Schulkleidung vom Vormittag, sondern in Alltagskleidung. Das ganze Prozedere; das Jacken anziehen, hinunter in den Keller gehen, Hauslatschen gegen Straßenschuhe wechseln, der Toilettengang, das obligatorische Hände- und Gesichtwaschen und das Hinübergehen; hat wohl kaum länger als 15 Minuten gedauert. Selbstverständlich in Zweierreihe, geordnet und gesittet, und nicht, wie unsere Pädagogen des Öfteren sagten: „Wie ein Hammelhaufen“.

Dort angekommen, wurden die Hausaufgaben angefertigt. Wir waren natürlich bestrebt, so schnell wie möglich fertig zu werden. Denn jede Minute die wir eher fertig wurden, hatten wir länger Freizeit. Ein Knackpunkt war natürlich, dass wir alle fertig zu sein hatten. Wir halfen dann den Bummelanten. Wir halfen, in dem wir als Kamerad die Aufgaben, beispielsweise in Mathematik, noch einmal erklärten und die Bummelanten dann schneller die Aufgaben erledigen konnten.

Eine Ausnahme bestand nur in einem Fall. Sollten wir als Hausaufgabe auch noch ein Gedicht oder Russisch- Vokabeln lernen, so konnten diejenigen, die das Gedicht oder die Vokabeln schon konnten, raus auf den Sportplatz. Voraussetzung war aber auch hier wieder, dass alle mit den übrigen Aufgaben fertig waren und nur noch das Gedicht und die Vokabeln zu lernen waren. Wer dann das Gedicht und die Vokabeln fehlerfrei aufsagen konnte, konnte raus.

Dort waren dann auch schon einige Jungs der anderen drei Gruppen. Zum Fußballspielen ideal. Nicht nur ein Torwart und sechs Spieler je Mannschaft; … nein, … es uferte zu zwei Torwarte und zweiundzwanzig Spieler je Mannschaft aus. Achtundvierzig Jungs und zusätzlich der Schiedsrichter und die Linienrichter tummelten sich auf dem Platz; und die Mannschaft bestand aus Jungs unterschiedlicher Klassen.

Gespielt wurde in Straßenschuhen. Als Turnschuhe hatten wir nur die blauen Stoffturnschuhe mit weißer weicher Gummisohle. Diese zogen wir nur zum Sportunterricht an. Sie hingen in einem Turnbeutel (ein Jeder hatte seinen eigenen) mit samst der Turnhose und dem Turnhemd an einer Art Garderobe in der Turnhalle.

Die Übriggebliebenen und die Zuspätkommer waren dann das Publikum. Für alle ein großes Hallo und Getöse. Für mich allerdings nicht, denn jeden Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag das gleiche Theater. Naja, das ist halt so, beim Fußball.

Bei Regenwetter trafen sich die Schüler nach den Hausaufgaben in der Turnhalle. Dort war ein Erzieher der uns mit Gemeinschaftsspielen bespaßte. Wir spielten beispielsweise:

Reise nach Rom: Es war bei diesem Spiel ein Stuhl weniger aufgestellt, als Spieler mitmachten. Es wurde ein Lied gesungen und plötzlich das Singen abgebrochen. Jeder der Mitspieler musste sich nun auf einen Stuhl setzen. Da ja nun ein Stuhl weniger vorhanden war als Mitspieler, gelang es einem nicht. Dieser Mitspieler und ein Stuhl schieden dann aus. Es ging dann von vorne los. Dieses wurde solange wiederholt, bis nur noch zwei Mann mit einem Stuhl um den Sieg rangen.

Begriffserklärung ohne zu sprechen war ein weiteres Spiel: Die Regel ist einfach; einer muss einen Begriff erklären und darf dabei nicht sprechen. Den Begriff Haus kann man leicht erklären; man zeigt auf ein Haus, wenn eins in der Nähe steht. Oder man zeichnet mit seinen Händen die Umrisse eines Hauses in die Luft. Der Begriff Hausaufgabenheft ist da schon schwieriger. Man kann es auch umgekehrt spielen, indem viele den Begriff erklären und nur einer ihn erraten muss.

Berufe raten anhand von Körperbewegungen war für mich jedoch das beste Spiel: Die Regel war wie die von Begriffserklärung ohne zu sprechen. Der Erklärende führte die Bewegungen aus, die ein im Beruf stehender Arbeiter ausführt. Dabei ist der Maler leicht darzustellen, aber einen Lehrer darzustellen doch schon sehr viel schwerer. Oft haben wir die Lösung schon erraten, sie aber nicht preisgegeben. Die Anstalten, die der Erklärende von sich gab, waren öfters so amüsant, dass wir den Spaß nicht so schnell beenden wollten.

Im Winter, wenn Schnee lag, war das Fußballspielen selbstverständlich abgeblasen. Wir lieferten uns dann Schneeballschlachten; bauten uns Schlitterbahnen. Es fanden richtige Wettkämpfe statt. Eine Gruppe gegen die andere. Bei der Schneeballschlacht schied ein Jeder aus, der getroffen wurde. Der Treffer musste am Rücken, am Arm oder am Bauch erfolgen. Bei der Schlitterbahn wurde ermittelt, wer am weitesten kam. Meistens war die Bahn aber nicht lang genug. Des Öfteren schickte uns dann der Erzieher am Ende dieser Freizeitbeschäftigung los, um Wasser zu holen. Hinter dem Wohnhaus unserer Lehrer, wir nannten es das Haus des Lehres (genau so wie in Berlin, in der Nähe des Berliner Fernsehturm), befand sich an der Außenwand ein Wasserhahn. Der war eingepackt mit irgendwelchen Lumpen, um das Einfrieren zu verhindern. Mit dabei, ein alter weiß- emaillierter verbogener und abgestoßener Eimer. Wir gossen dann wieder Wasser auf die Schlitterbahn (und darüber hinaus ebenfalls) und hofften, dass alles wieder schön zu Eis einfriert.

Wir konnten so unsere überschüssige Energie abbauen. Es machte uns viel Spaß. Und traf uns mal ein Schneeball ziemlich hart, dann flossen auch Tränen und Rachegelüste wurden geweckt. Aber alles nur im Spielspaß.

Wenn die Aussicht bestand, dass der Schnee noch eine Weile liegen würde, bauten wir Schneemänner. Der Sportplatz war schnell mit den Schneemännern übersät. Jeder hatte sogar seinen eigenen Namen. Die beiden Axel (Axel S. und Axel L.) und ich bauten auch einen, der jedoch zum Gespött des ganzen Heimes wurde. Wir nannten ihn Gustav. Leider fingen wir etwas zu spät mit dem Bauen an, sodass wir nicht genug lockeren Schnee hatten. Um uns die Arbeit zu erleichtern, bestand er nur aus einer Schneekugel. Da nicht genug lockerer Schnee mehr da war, wurde er aus dem sogenannten Schneemehl gebaut. Unser Schneemann war halt ockerfarbig, weil wir das Schneemehl von den Rändern der Gehwege nahmen. Diese wurden mit Sand gestreut und der Schnee nahm diese Farbe an. Seine Augen waren zwei Kieselsteine, seine Nase ein Tannenzapfen und sein Mund war aus den Spitzen der Tannenzweige geformt. Unser Gustav war eben unrasiert. Sein Hut, und unser Gustav war der einzige mit Hut, war eine große leere Fünf- Liter- Erbsen- Konservendose. Diese Dose und einige Lumpen (mit denen wir vorher noch Schuhe putzten) hatte Axel L. vorher aus einer Mülltonne erbeutet. Die Lumpen zerrissen wir in Streifen und knoteten daraus einen Schal. Sein Besen war ein Tannenzweig; den steckten wir einfach so in seinen Rumpf. Arme und Beine hatte er nicht, nicht mal ansatzweise. Die einzigen die unseren Gustav für gut befanden, waren unsere Pädagogen; nicht weil er besonders schön war; … nein, … weil er so überaus eigenartig war. Unsere Pädagogen sahen in ihm, dass man mit wenig Mitteln noch was bewerkstelligen konnte. Und unser Gustav war der letzte der beim einsetzenden Tauwetter dahin schmolz. Unsere Lehrer erklärten uns dann, dass durch den Schneemehl, der ja per Hand Stück für Stück festgeklopft wurde, eine höhere Dichte entstand. Diese höhere Dichte, braucht eine höhere Energie um zu tauen. Außerdem bauten wir unseren Gustav unter einem Baum, der fast den ganzen Tag Schatten spendete.


gegen 17:3o Uhr Freizeitende

Gegen 17:3o Uhr wurde dann wieder der berühmt- berüchtigte Satz gerufen, eigentlich eher geschrien, wenn Fußball gespielt wurde: „Antreten in Zweierreihe!“. Der Fußball wurde im Eingangsbereich der Schule abgelegt und mehr oder weniger schnell bildeten sich dann vier Gruppen. Im Schuljahr 1977/78 waren es dann die Gruppe 4, die Gruppe 5a (der ich angehörte), die Gruppe 5b und die Gruppe 6.

Die Gruppen rückten im zeitlichen Versatz ab. Das war auch nötig, denn im Keller des Heimes hätten vier Gruppen auf einmal, kein Platz gehabt.

Als wir ankamen war die vorhergehende Gruppe schon draußen beim Schuhe putzen im Vorhof. Wir hatten nun Zeit (tja, eigentlich nur fünf Minuten) unsere Jacken an das Handtuchhaltergestell zu hängen, die Straßenschuhe mit den Latschen zu wechseln, eventuell den Toilettengang zu absolvieren und mit den Straßenschuhen in der Hand zum Schuhe putzen anzutreten.

Unter der Kellertreppe war ein kleiner niedriger Raum abgeteilt. Dort stand in einem Holzregal für jede Gruppe eine Holzkiste mit Schuhputzzeug. Grobe Handbürsten für den groben Dreck, Schuhcreme, Putzlumpen zum Auftragen der Schuhcreme und feine Handbürsten zum Polieren der Schuhe waren in dieser Kiste. Und das Ganze doppelt, wegen schwarzer und brauner Schuhe.

Einer von uns nahm nun diese (also unsere) Kiste und wir gingen in Hauslatschen und unseren Straßenschuhen in der Hand zum Vorhof hinaus. Dabei kam uns die Gruppe, die wir bei unserer Ankunft vom Sportplatz schon beim Schuhe putzen trafen, entgegen. Auf der Treppe entstand kein Gerangel. Das lag aber an der Regel, dass immer nur auf der rechten Seite gegangen werden durfte. Wenn nämlich jemand auf seiner rechten Seite hoch geht und ein anderer auf seiner rechten Seite hinunter, so gehen beiden links aneinander vorbei (diese Regel sollte man bei Treppenaufgängen in Bahnhöfen durchsetzen, finde ich). Bei Regenwetter oder im Winter putzten wir unsere Schuhe im Kellergang. Wir rückten dann im größeren zeitlichen Versatz an. Selbstverständlich wurden unsere Schuhe vom Erzieher auf Sauberkeit überprüft. Es gab aber selten Beanstandungen; denn: was man täglich macht, gelingt ordentlich und schnell.


18:oo Uhr Abendbrot

Nach dem Schuhe putzen sowie dem obligatorischen Hände- und Gesichtwaschen ging es vom Keller aus zum Abendbrot. Ich saß am Vierertisch. Rechts neben mir saß Axel S., mir gegenüber saß Andreas K. und zu meiner Linken saß Renk- Dennis V.

Das Abendbrot war reichlich. Auf dem Tisch standen dann ein Brotkorb und eine Platte mit Wurst, mit Buttersternchen und mit Käse. Unser Axel S. hatte seine Ration auf einem gesonderten Teller angerichtet bekommen. Die Wurstplatte war jedoch nicht irgendwie portioniert. Meist war die Platte so angerichtet, dass nicht durch die Anzahl der am Tisch sitzenden Personen geteilt werden konnte. Beispielsweise lagen auf der Platte des Viermanntisches drei Salamiwurstscheiben, fünf Teewurststücke, zwei Schmelzkäseecken und Weiteres mehr. Das war auch kein Problem, denn ein Jeder hatte ja seine Vorlieben.

Und es konnte nachgeholt werden. Vorausgesetzt, die Platte des jeweiligen Tisches war leer. Wenn zum Beispiel keiner der am Tisch sitzenden Teewurst mochten, musste sich mindestens einer opfern, auch diese zu essen. Aber das kam, ich kann mich jedenfalls nicht an eine solche Situation erinnern, nicht vor. Bevor nachgeholt wurde, wurde zuerst auf den Nachbartischen die wohl möglichen Reste verbraucht. War dort auch nichts mehr zu holen, gingen wir zur Essensausgabe. Brot und Wurst, aber auch Tee, konnte nachgeholt werden. Nur Butter gab‘s nicht als Nachschlag. Auch das stellte kein Problem dar, denn unter der, wir nannten es Schmierwurst (Teewurst, Leberwurst, Schmelzkäse), legten wir ohnehin keine Butter. Beim Nachholen konnten wir auch Wünsche äußern, also beim Küchenpersonal.

Das Küchenpersonal nahm dann die riesige Wurst aus dem Kühlschrank und schnitt uns die gewünschte Wurst scheibchenweise ab. Wenn unserer Tisch nachholte, war immer eine dickere Scheibe (meistens der Kanten) dabei. „Für S.“, flüsterte uns das Küchenpersonal dann zu. Nun ja, der Axel S. hatte einen Nachnamen der zugleich auch ein Vorname war. Ich denke, sie dachten, dass das sein Vorname sei. Diese dicke Scheibe schoben wir dann Axel S. auch heimlich zu. Da er mit dem Rücken zum Erzieher saß, konnte er sie auch unbemerkt verspeisen.

Der Einzige, der sich beim Zuschieben von den Erziehern (die Lehrer hatten sowieso nichts dagegen) hat erwischen lassen, war ich. Da war dann ein großes Theater und eine große Diskussion im Gange. Zuerst eine Standpauke vom Erzieher. „Wie könnte ich Anweisungen vom Erzieher umgehen …“. Auf meine Gegenfrage: „Wie man von dem Bisschen satt werden solle …?“, setzten dann meine Kameraden mit in die Diskussion ein. Zum Schluss stand das Küchenpersonal ebenfalls da, und diskutierten kräftig mit, auf unserer Seite.

Dieses ganze Theater hatte den Vorteil, dass Axel S. von einem Arzt untersucht wurde. Sie stellten eine Stoffwechselkrankheit fest. Irgendein Bestandteil im Brot und Mehl sorgte für eine Unverträglichkeit und eine Ablagerung im Körper, die ihn somit so pummelig aussehen ließ. Die durch die Erzieher verordnete Diät, machte ihn nicht schlanker. Die Erzieher waren natürlich der Meinung, dass durch das ständige Zugeschiebe diese Diät kein Erfolg haben konnte.

Der Arzt legte dann einen Ernährungsplan fest. Er bestand im Wesentlichen aus dem Wechsel der Brotsorte (die extra nur für ihn in der Küche gebacken wurde, hellgelb war und wie ein Stück Plaste aussah) und das Weglassen von Soßen, die ja Bestandteile von Mehl enthielt. Fortan wurde unser Axel S. schlanker.

Er hat zwar nie unsere Figur erreicht, aber er konnte sich wieder satt essen. Für uns Kameraden war das auch wichtig. Wir hörten pausenlos in der Schule, dass Kinder hungern müssen; wir hörten pausenlos, dass Kinder am Hunger sterben; wir hörten pausenlos, dass das in unserer Gesellschaft nicht vorkommt; und dann dieser Nahrungsentzug. Das passte in unsere Gedankenwelt nicht rein.


18:3o Uhr Abendhygiene

Um 18:3o Uhr war das Abendbrot beendet. Nun hieß es, sich zu sputen. Denn das Abendprogramm um 19:oo Uhr im Fernsehen wollte keiner verpassen. Diese halben Stunde war wohl die stressigste im ganzen Tagesablauf.

Von 19:oo Uhr bis 19:2o Uhr liefen im Fernsehen kleine 20-minütige Fernsehserien. Beispielsweise „Oh diese Mieter“ (aus Dänemark), „Das Krankenhaus am Rande der Stadt“ (aus der ČSSR) oder „Pan Tau“ (ebenfalls aus der ČSSR). Einige Fernsehserien wurden auch halbiert und an zwei Tagen hintereinander gezeigt. Oder „Adolar’s phantastische Abenteuer“ (aus der VR Ungarn).

Vom Speisesaal aus ging es hoch in unsere Schlafräume, geordnet, gesittet und gemeinschaftlich. Dort zogen wir uns bis auf die Unterhose aus, schnappten unsere Waschtaschen und gingen in den Keller zu den Waschräumen. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Gruppen unten. Das Gerangel kann sich bestimmt jeder gut vorstellen.

Wir hatten zwei Waschräume, in dem je zwei Gruppen sich gleichzeitig wuschen. Was heißt wuschen? Wir steckten irgendein Waschlappen als Stöpsel in den Abfluss des riesigen Terrazzo- Waschtrog, ließen das Wasser einlaufen (für mich war es meistens zu heiß) und schaufelten es über unsere Körper. Das war eine effektive Methode schnell sauber zu werden. Dann noch schnell Ohren und Gesicht gewaschen, Zähne geputzt und dann spliterfasernackt zum Erzieher, der unsere Sauberkeit überprüfte. Das hatten wir meistens in einer viertel Stunde erledigt. Eins, zwei Minuten nach 18:45 Uhr kamen wir in unsere Schlafräume zurück. Die Unterhose, die Strümpfe und das Unterhemd kamen in einen Wäschekorb. Die Unterhosen wurden vom GvD kontrolliert.

Befanden sich dort Bremsspuren oder gelbe Landkarten war der Fernsehabend sowieso gestrichen. Man bekam dann ein Stückchen Kernseife in die Hand, konnte runter in den Keller und in einem extra dafür angebauten Blechwaschbecken in der riesigen Toilettenanlage seine Unterhosen waschen. War man damit fertig, war das 19:oo Uhr Programm schon zu ende. Doch wir waren clever; sollten sich mal Bremsspuren oder gelbe Landkarten in der Unterhose befunden haben, wuschen wir sie heimlich während wir uns ohnehin im Waschraum wuschen. Das unangenehme war halt nur, mit nassen Unterhosen durch die Gegend zu laufen bis sie ohnehin, etwa 1o Minuten später, abgegeben wurde. Dem GvD war es egal, ob die Unterhose nun nass oder trocken war. Der Erzieher kontrollierte den GvD natürlich auch auf Einhaltung dieses Rituals. Er sah dann stichprobenweise im Wäschekorb nach. Waren einige Unterhosen nass, so dachte er sich, dass diese nach der Kontrolle durch den GvD vom Verursacher gewaschen wurden. Somit hat jeder, dem das passierte, seinen Fernsehabend doch noch gerettet.

Der Wäschedienst hatte die neue Unterwäsche für den nächsten Tag schon auf unsere Betten verteilt. In jeder Unterhose und in jedem Unterhemd (eigentlich in jedem zugeteiltem Wäschestück, außer den Strümpfen) war eine Nummer eingenäht. Ich hatte die rote 24. Die Farbe Rot stand für Gruppe 5a und die 24 stand für mich. Warum ich die Nummer 24 hatte, wir aber nur 16 Jungs waren, ist mir bis heute schleierhaft. Die anderen drei Gruppen hatten die Farben Gelb, Blau bzw. Grün. Wir zogen uns dann die Pyjamas an; und darüber, im Winter, einen Trainingsanzug.

Nun ging es schnell noch ans Päckchen bauen. Die Wäsche wurde so zusammengefaltet, dass jedes Kleidungsstück die gleiche Breite und die gleiche Tiefe hatte; nur die Höhe konnte durch die unterschiedliche Stoffdicke nicht einheitlich sein.

Ganz unten lag die Schulhose, dann kam das Unterhemd, dann die Strümpfe (auseinandergerollt und zusammengeklappt nebeneinander), dann die Unterhose oben drauf, und zum Schluss das Schulhemd (wenn am darauf folgenden Tag Schulunterricht abgehalten wurde). Dieses Päckchen wurde auf dem Nachtschrank abgelegt. Das Alltagshemd und die Alltagshose kamen, natürlich akkurat gefaltet, in den Nachtschrank. Der GvD kontrollierte alles und man verschwand im Fernsehraum.

Nun ja, nicht jeder. Denn es gab noch eine Aufgabe für jeden zu erledigen, die von der jeweiligen Dienstaufgabe abhing, ob nun der Fernsehabend für sich gerettet werden konnte.

Jeder bekam für eine Woche lang eine Dienstaufgabe. Nach längerem Nachdenken fielen mir diese auch wieder ein. Einer von uns war der GvD, zwei Jungs hatten den Tischdienst, zwei Jungs hatten den Schlafraumdienst (wir hatten ja zwei Schlafräume), einer den Gruppenraumdienst, zwei Jungs den Waschraumdienst eines Waschraumes (den anderen reinigte die Gruppe 5b), einer den WC- Dienst (also die einzelne Toilette die sich beim obersten Treppenhauspodest befand), zwei Jungs den Toilettendienst (das riesige Objekt im Keller), einer den Flurdienst, einer den Treppenhausdienst, einer den Blumendienst, einer den Wäschedienst und einer den Klassenraumdienst.

Der Tischdienst, der Klassenraumdienst und der Wäschedienst hat ja seine Aufgabe im Laufe des Tages erledigt. Der Gruppenraumdienst konnte erst anfangen, wenn wir anderen schon im Bett lagen. Der Blumendienst, der WC- Dienst und der Schlafraumdienst konnte seine Aufgabe mit Ach und Krach noch in dieser Zeit erledigen. Diejenigen saßen schon bei der Endmelodie des Sandmännchen vor der Röhre.

Die Gelackmeierten waren der Waschraumdienst, der Toilettendienst, der Flurdienst und der Treppenhausdienst. Diejenigen schaften es nicht bis 19:oo Uhr fertig zu werden. Und der GvD war bis zum Schlafengehen im Einsatz. Um 19:2o Uhr mussten aber alle fertig sein und sich im Gruppenraum versammelt haben.


19:2o Uhr Tagesauswertung

Dieses Ritual wurde täglich durchgezogen. Ob Sommer oder Winter; ob Herbst oder Frühling; ob Schulzeit oder Ferien; Wochenende oder Feiertag; egal: um 19:2o Uhr ist die Tagesauswertung abgehalten worden. In 1o Minuten waren wir damit durch. Jeder erhielt seine Tagesnote, hier und da wurde noch gerügt oder gelobt. Und dann ging der Fernseher wieder an. Auf dem Programm standen die Nachrichten der Aktuellen Kamera. Das war für uns die außerschulische Rotlichtbestrahlung.


2o:oo Uhr Fernsehabend

Von 2o:oo Uhr bis 2o:55 Uhr konnten wir dann noch irgendeinen Film sehen. Jedenfalls diejenigen, die bei der Tagesauswertung kein Fernsehverbot bekommen hatten. Dabei wollte so gar nicht rechte Freude aufkommen. Die Filme liefen meistens bis 21:3o Uhr. Also quasi mitten in der Handlung wurde der Fernseher abgeschaltet. Dann hieß es noch schnell mal auf’s Klo und dann ab in die Pupsmolle, wie wir es immer so schön sagten.

Einige Male kam es vor, dass wir den Film bis zum Ende sehen durften. In den Ferien und am Samstag eigentlich immer. An den Schultagen und am Sonntag hat der Erzieher sehr oft mit der Nachtwache verhandelt. Diese musste sich dann ja um das Zubettgehen kümmern; meist um mehrere Gruppen gleichzeitig. Aber wir waren schlau genug, uns den nächsten Fernsehabend nicht zu verderben. Wir waren dann wieder ein Selbstläufer. Noch während des Filmabspanns schalteten wir den Fernseher ab und lagen, wenn die Nachtwache zur Kontrolle hoch kam, schon im Bett. Den abendlichen letzten Toilettengang erledigten wir dann nacheinander auf dem WC des obersten Treppenpodestes während des Filmes.


21:oo Uhr Nachtruhe

Warum wir zu unseren Betten Pupsmolle sagten, wissen wir selber nicht. Wenn ich im Bett lag, fühlte ich mich wohl. Ich hing noch meinen Gedanken nach und dann schlief ich zufrieden und geborgen ein; mit meinen kleinen Teddybär, der Strelie heißt (den hab ich heute noch, er steht in meinem Schlafzimmer auf dem Wandregal).


Teil III: Der Mittwoch am Nachmittag


7:45 Uhr bis 13:35 Uhr Schule

Das Schöne am Mittwoch war, wir hatten keine Hausaufgaben aufgetragen bekommen. Am Mittwoch war Pioniernachmittag.


13:35 Uhr Übergabe der Schüler an den Erzieher

Meistens kamen die Erzieher etwas später. Alle vier Gruppen rannten auf dem Pausenhof umher. Außerdem mussten die Gruppen zeitlich versetzt losgehen, sodass nicht alle vier Gruppen gleichzeitig im Keller die Schuhe wechseln mussten. So groß war der Keller nun auch nicht.

Aber es hieß dann bald auch für unsere Gruppe: „In Zweierreihe antreten!“, und wir gingen zurück in das Heim.


13:4o Uhr Ankunft im Heim

Im Heim angekommen, zogen wir uns erst einmal um. Im Keller, dort standen unsere Hauslatschen, wechselten wir unsere Straßenschuhe mit den Hauslatschen und ein Jeder der auf die Toilette musste, verschwand auf der riesigen Toilettenanlage. Natürlich war auch das Hände- und Gesichtwaschen nach der Schule ein fest eingebautes Ritual.

Danach ging es hoch in unsere Schlafräume, dort wechselten wir dann die Schulkleidung mit der Alltagskleidung. Wir hatten nämlich für die Schule und für den Alltag verschiedene Kleidung. Die Schulkleidung war eigentlich nichts Besonderes. Es war keine Schuluniform oder Ähnliches, sie wurde halt nur in der Schule getragen. Die Alltagskleidung war meistens auch nicht die neueste Bekleidung.


14:oo Uhr Pioniernachmittag

Um 14:15 Uhr ging der Pioniernachmittag los. Ein Jeder musste sich (und ich glaube auch, dass ein Jeder wollte), seinem Hobby entsprechend, einer AG Junger Pioniere (AG = Arbeitsgemeinschaft) im Rahmen des Angebotes anschließen. Als ich in der Klasse 4a (Schuljahr 1976/77) war, gehörte ich der AG Junge Sanitäter an. Meine Kameraden, die aus unterschiedlichen Gruppen kamen, und ich, lernten dort unfallbedingte Verletzungen zu versorgen, den Verletzten zu transportieren und lebensrettende Maßnahmen auszuführen (Herzdruckmassage, Fremdbeatmung, Blutstillung usw.). Bei den Transportmaßnahmen war ich dann das Übungsobjekt. Ich war damals noch leicht und handlich.

Die Verbände die ich dort erlernte, beherrsche ich heute noch. In meinem Beruf als Berufsausbilder im praktischen Fachbereich der Betriebstechnik, der Messtechnik, der Steuerungstechnik und der Regelungstechnik kommt es öfter vor, dass sich ein Lehrling verletzt. Meistens an den Fingern. Von mir bekommt er nicht einfach so ein sogenanntes Fingerpflaster, er bekommt einen Fingerverband. Wenn die Kompresse und die Mullbinde nicht einfach rundum um den Finger gewickelt, sondern gewickelt gewendet gewickelt gewendet usw. ist, kann der Finger bewegt werden, ohne dass der Verband zerfällt oder runterrutscht. Mit so einem Verband schicke ich dann den Lehrling zum Werksarzt. Die Ärzte sind über den akkurat ausgeführten Verband erfreut.

Ich hatte einen Fall, da verletzte sich ein Lehrling am Ellenbogen. Er stolperte, schlug mit dem Ellenbogen auf, rutschte noch ein Stückchen den Werkstattfußboden entlang und es entstand eine Schürfwunde; vom Ellenbogen bis zum halben Unterarm. Nun gut, … ich deckte die Wunde mit Kompressen ab, legte ein Gelenk- Kreuzverband an und schickte ihn zum Werksarzt.

Am nächsten Tag kam er mit einem neuen Verband an. Nach der ersten Stunde war dieser ausgefranst und in der dritten Stunde rutschte der Verband schon von der Wunde. Ich legte ihm wieder einen neuen Gelenk- Kreuzverband an und wir gingen gemeinsam zum Werksarzt. Dem zeigte ich den neuen Verband und fragte ihn, ob sein Personal nicht in der Lage wäre, einen solchen Verband anzulegen. Das Theater im Schwesternzimmer war dann groß. Und tatsächlich hatten die Schwestern von diesem Verband schon gehört, haben diesen auch mal erlernt, aber durch die Nichtanwendung wieder verlernt. Ich zeigte ihnen diesen Verband nochmal; und geübt haben sie dann beim täglichen Verbandswechsel am Lehrling. So hat doch das Personal des Werkarztes einer allseits bekannten westlichen Automobilmarke noch vom damals in der AG Junger Sanitäter Erlerntes, profitiert.

In der Klasse 5a (Schuljahr 1977/78) war ich in der AG Junge Elektroniker. Das war der Grundbaustein meines später erlernten Berufes. Die AG hieß zwar AG Junge Elektroniker, aber befasst haben wir uns mit den Grundlagen der Elektrik. (Spannungserzeugung, Spannungstransformieren, Spannungweiterleitung und noch Vielem mehr).

Als ich dann nach der 5. Klasse (Juli 1978) wieder nach Hause kam (offiziell hieß das: Entlassung aus der staatlich geförderten Erziehung in das Elternhaus), schloss ich mich in meiner Heimatstadt wieder einer AG Junger Elektroniker im Haus Junger Pioniere an. Dort befassten wir uns dann wirklich mit der Elektronik.

Auf dem Boden meines Elternhauses fand ich ein altes Röhrenradio, das nicht mehr funktionierte. Durch meinen älteren Bruder erfuhr ich, dass das, das Hochzeitsgeschenk unserer Eltern war. Sie haben 1961 sich das Ja- Wort gegeben. Es stand auf dem Boden herum, eben weil es defekt war und sie diese Erinnerung nicht wegwerfen wollten. Ich schnappte mir dieses Radio, natürlich heimlich, und schleppte es mit in die AG Junge Elektroniker meiner Heimatstadt. Wir studierten gemeinsam den Schaltplan, der auf der Innenseite der Abdeckung als Prinzipschaltbild aufgedruckt war. Schnell stellten wir in der AG fest, dass eine Röhre defekt war.

Das Radio ist zu diesem Zeitpunkt schon seit siebzehn Jahren nicht mehr gebaut worden und dementsprechende Ersatzröhren schon lange nicht mehr verfügbar. Da der Emitter und der Kollektor dieser Röhre nicht mehr hinhaute, beschlossen wir, diese Röhre mit Transistoren, Thyristoren, Widerständen und Kondensatoren in der Funktion nachzubauen. Wir bauten die Ersatzschaltung so, dass sie auf dem Sockel der defekten Röhre in der Funktion und in der Mechanik passte.

Zu Weihnachten stellte ich dieses reparierte Radio unter den Weihnachtsbaum, mit einer Weihnachtsgrußkarte aller meiner Kammeraden der AG, dem AG- Leiter und mir. Ich war da 13 1/2 Jahre alt.

Da diese Ersatzschaltung bei Anlegen einer Spannung (durch einschalten des Radios) sofort funktioniert, die Röhren aber erst aufgeheizt werden müssen, brummt das Radio solange, bis die letzte Röhre ihre Betriebstemperatur erreicht hat (etwa zwei Minuten). Mein Vater ist mittlerweile durch einen Verkehrsunfall verstorben, aber das Radio läuft von früh bis spät bei meiner Mutter; heute noch. Es ist mittlerweile 60 Jahre alt (Stand: 2021) und läuft, und läuft, … und läuft. Nach dem Aufstehen ist das Einschalten der erste und vor dem Zubettgehen das Abschalten der letzte Handgriff meiner Mutter im Tagelablauf.

Es gab viele Arbeitsgemeinschaften im Heim. Fast jeder Pädagoge hat sein Hobby oder sein Lehrberuf zur AG gemacht. Ich kann mich an meine beiden AG’s, der AG Junge Naturforscher, der AG Meine Heimat und der AG Gartenbau erinnern. Es gab noch eine AG die sich um die Tiergehege (die ja hinter unserem Heim sich befanden und der Lehrerweg daran vorbeiführte) kümmerten. Aber … vielleicht kümmerte sich auch die AG Junger Naturforscher darum. Ich fand es schön, dass sich auch ein außergewöhnliches Projekt in unserem Heim befand, aber die Hintergründe kümmerten mich überhaupt nicht.

Nun ja, Punkt 14:oo Uhr meldete ich mich beim Erzieher ab, um in meiner AG zu erscheinen. Ich glaube, die Zeit von der Abmeldung beim Erzieher bis zur Anmeldung beim AG- Leiter (und umgedreht), war die einzige Zeit der ganzen Woche, in der nicht irgendein Pädagoge oder der GvD, mich in Aufsicht hatte. Meine Aufgabe in diesem Zeitabschnitt war, jeden Mittwoch (außer in den Ferien, und komischer Weise in beiden Schuljahren), den Vesperkorb mitzubringen. Das stellte jedoch kein Problem dar; denn auf den Weg in den Keller, um die Hauslatschen gegen die Straßenschuhe zu wechseln, musste ich sowieso an der Küche vorbei.In unserer AG waren nur vier Mann und der AG- Leiter. Die AG hatte ihren Raum im Schulgebäude. Dort war ein Klassenzimmer für uns eingerichtet. Hier waren in den Schränken Montageplatten (Blechplatten mit vielen Löchern drin) und allerlei Elektroelemente (wie Spulen, Transformatoren, Schalter, Kabel und noch Vieles mehr) verstaut. Das holten wir aus den Schränken und machten unsere ersten Erfahrungen mit der Anwendung der elektrischen Energie; durch Aufstecken der Elektroelemente und der dementsprechenden Verkabelung. Natürlich gab’s viel Theorie vorweg.


15:oo Uhr Vesper

Punkt 15:oo Uhr war Vesper und dauerte etwa 2o Minuten. Danach ging’s mit der AG bis 17:2o Uhr weiter.

Ich hatte, wie schon erwähnt, den Vesperkorb (ein Korb aus stabilen Plaste mit einem Deckel, einem breiten viereckigen Eimer ähnlich) aus der Küche mitgebracht. Im Vesperkorb lag auf dem Boden unserer Getränke und ein Flaschenöffner. Es waren kleine 0,2- Liter- Glasflaschen mit Kronkorkenverschluss. Sie waren mit Obst- oder auch Gemüsesäften gefüllt. Unsere Vesper war für jeden ein Klappschnittchen welches mit Wurst, Käse oder manchmal mit Kunsthonig belegt war. Diese lagen, durch ein sauberes weißes Tuch getrennt, auf einer Hälfte des Vesperkorbes über den Flaschen. Auf der anderen Hälfte lag dann das Obst bzw. das Gemüse. Darüber war wiederum ein sauberes weißes Tuch. Obendrauf dann der Deckel, der mit einer Art Acrylfarbe beschriftet war; es stand darauf der Name der Gruppe; beispielsweise 5a. Am Mittwoch interessierte aber nicht die Acrylaufschrift sondern der Zettel der obenauf lag. Da stand dann der Name der AG drauf.

Diese von den Pädagogen gelenkte Freizeit ging 17:15 Uhr dann zu ende. Ich empfand diese Art der Freizeitbeschäftigung als recht angenehm und nützlich. Viele von uns konnten dadurch ihren Interessen nachgehen und wurden, so ganz neben bei, gefördert. Als eine Art Zwang habe ich es nie gesehen. Man konnte auch die AG’s wechseln, meistens jedoch erst nach den nächsten Ferien, um sein Interesse heraus zu finden. Ich fand es sehr gut, dass durch diesen Wechsel auch das optimale Interesse herausgefunden wurde. Tja, … Interessen führte man gerne aus, dadurch waren die meisten von uns an diesem Tag auch glücklich.


17:3o Uhr Ende der AG

Das Ende der AG bedeutete, wieder in das Alltagsgeschehen zurückzukehren. Jeder meldete sich beim AG- Leiter kurz vor 17:3o Uhr ab und ginge in das Heim zurück. Kurz vor dem Heim empfing uns unserer Erzieher, bei schönem Wetter. Bei schlechtem Wetter trafen wir uns im Gruppenraum. Wir hatten spätestens 17:3o Uhr dort zu sein.

Dann rückten die Gruppen wieder im zeitlichen Versatz im Keller ein. Das war auch nötig, denn im Keller des Heimes hätten vier Gruppen auf einmal, kein Platz gehabt. Als wir ankamen war die vorhergehende Gruppe schon draußen beim Schuhe putzen im Vorhof. Wir hatten nun Zeit (tja, eigentlich nur fünf Minuten) mit den Straßenschuhen in der Hand zum Schuhe putzen anzutreten.Einer von uns nahm unsere Schuhputzkiste und wir gingen in Hauslatschen und unseren Straßenschuhen in der Hand zum Vorhof hinaus. Dabei kam uns die Gruppe, die wir bei unserer Ankunft schon beim Schuhe putzen trafen, entgegen.

Bei Regenwetter oder im Winter putzten wir unsere Schuhe im Kellergang. Wir rückten dann im größeren zeitlichen Versatz an. Selbstverständlich wurden unsere Schuhe vom Erzieher auf Sauberkeit überprüft. Es gab aber selten Beanstandungen, denn was man täglich macht, gelingt ordentlich und schnell.


18:oo Uhr Abendbrot

Nach dem Schuhe putzen sowie dem obligatorischen Hände- und Gesichtwaschen ging es vom Keller aus zum Abendbrot. Ich saß am Vierertisch. Das Abendbrot war reichlich. Auf dem Tisch standen dann ein Brotkorb und eine Platte mit Wurst, mit Buttersternchen und mit Käse. Unser Axel S. hatte einige Nahrungsmittel auf einem gesonderten Teller angerichtet bekommen, da er an einer Stoffwechselkrankheit litt. Die Wurstplatte war jedoch nicht irgendwie portioniert. Meist war die Platte so angerichtet, dass nicht durch die Anzahl der am Tisch sitzenden Personen geteilt werden konnte. Beispielsweise lagen auf der Platte des Viermanntisches drei Salamiwurstscheiben, fünf Teewurststücke, zwei Schmelzkäseecken und Weiteres mehr. Das war auch kein Problem, denn ein Jeder hatte ja seine Vorlieben. Und es konnte nachgeholt werden. Vorausgesetzt, die Platte des jeweiligen Tisches war leer. Wenn zum Beispiel keiner der am Tisch sitzenden Teewurst mochten, musste sich mindestens einer opfern, auch diese zu essen. Aber das kam, ich kann mich jedenfalls nicht an eine solche Situation erinnern, nicht vor. Bevor nachgeholt wurde, wurden zuerst auf den Nachbartischen die wohl möglichen Reste verbraucht. War dort auch nichts mehr zu holen, gingen wir zur Essensausgabe. Brot und Wurst, aber auch Tee, konnte nachgeholt werden. Nur Butter gab‘s nicht als Nachschlag. Auch das stellte kein Problem dar, denn unter der, wir nannten es Schmierwurst (Teewurst, Leberwurst, Schmelzkäse), legten wir ohnehin keine Butter. Beim Nachholen konnten wir auch Wünsche äußern, also beim Küchenpersonal. Das Küchenpersonal nahm dann die riesige Wurst aus dem Kühlschrank und schnitt uns die gewünschte Wurst scheibchenweise ab.


18:3o Uhr Abendhygiene

Um 18:3o Uhr war das Abendbrot beendet. Nun hieß es, sich zu sputen. Denn das Abendprogramm um 19:oo Uhr im Fernsehen wollte keiner verpassen.

Von 19:oo Uhr bis 19:2o Uhr liefen im Fernsehen kleine 2o-minütige Fernsehserien. Beispielsweise „Oh diese Mieter“ (aus Dänemark), „Das Krankenhaus am Rande der Stadt“ (aus der ČSSR) oder „Pan Tau“ (ebenfalls aus der ČSSR). Einige Fernsehserien wurden auch halbiert und an zwei Tagen hintereinander gezeigt. Oder „Adolar’s phantastische Abenteuer“ (aus der VR Ungarn). Diese halbe Stunde war wohl die stressigste im ganzen Tagesablauf.

Von Speisesaal aus ging es hoch in unsere Schlafräume, geordnet, gesittet und gemeinschaftlich. Dort zogen wir uns bis auf die Unterhose aus, schnappten unsere Waschtaschen und gingen in den Keller zu dem einzigen Duschraum. Mittwochs wurde geduscht.

Zu diesem Zeitpunkt waren alle Gruppen unten. Das Gerangel im Duschraum kann sich bestimmt jeder gut vorstellen. Der Duschraum war riesen groß. An der Decke waren unzählige Duschköpfe angebracht. Egal wo man stand, man stand faktisch immer unter einer Brause. Dann noch schnell die Zähne geputzt, ebenfalls unter der Dusche, und dann, mit abgetrocknetem Haar, spliterfasernackt zum Erzieher, der unsere Sauberkeit überprüfte. Dann gab’s noch ‘nen Schwapp Birkenhaarwasser aufs Haupt, und fertig war die Duscherei.

Das war meistens in einer viertel Stunde erledigt. Mehr Zeit hatten wir am Duschtag auch nicht, denn der Erzieher stellte nach 1o Minuten das Wasser auf kalt. Kalt duschen mochte wohl keiner.

Eins, zwei Minuten nach 18:45 Uhr kamen wir in unsere Schlafräume zurück. Die Unterhose, die Strümpfe und das Unterhemd kamen in einen Wäschekorb. Die Unterhosen wurden vom GvD kontrolliert. Befanden sich dort Bremsspuren oder gelbe Landkarten, war der Fernsehabend sowieso gestrichen. Man bekam dann ein Stückchen Kernseife in die Hand, konnte runter in den Keller und in einem extra dafür angebauten Blechwaschbecken in der riesigen Toilettenanlage seine Unterhosen waschen. War man damit fertig, war das 19:oo Uhr Programm schon zu ende.

Der Wäschedienst hatte die neue Unterwäsche für den nächsten Tag schon auf unsere Betten verteilt. In jeder Unterhose und in jedem Unterhemd (eigentlich in jedem zugeteiltem Wäschestück, außer den Strümpfen) war eine Nummer eingenäht. Ich hatte die rote 24. Die Farbe Rot stand für Gruppe 5a und die 24 stand für mich. Warum ich die Nummer 24 hatte, wir aber nur 16 Jungs waren, ist mir bis heute schleierhaft. Ein Jahr zuvor (also in der Klasse 4a) hatte ich die blaue 8. Die anderen drei Gruppen hatten die Farben Gelb, Blau bzw. Grün.

Wir zogen uns dann die Pyjamas an; und darüber, im Winter, einen Trainingsanzug. Nun ging es schnell noch ans Päckchen bauen. Die Wäsche wurde so zusammengefaltet, dass jedes Kleidungsstück die gleiche Breite und die gleiche Tiefe hatte; nur die Höhe konnte durch die unterschiedliche Stoffdicke nicht einheitlich sein. Ganz unten lag die Schulhose, dann kam das Unterhemd, dann die Strümpfe (auseinandergerollt und zusammengeklappt nebeneinander), dann die Unterhose oben drauf, und zum Schluss das Schulhemd (wenn am darauf folgenden Tag Schulunterricht abgehalten wurde). Das Alltagshemd und die Alltagshose kamen, natürlich akkurat gefaltet, in den Nachtschrank. Der GvD kontrollierte alles und man verschwand im Fernsehraum. Nun ja, nicht jeder.

Denn es gab nur noch eine Aufgabe für jeden zu erledigen, die von der jeweiligen Dienstaufgabe abhing, ob nun der Fernsehabend für sich gerettet werden konnte. Jeder bekam für eine Woche lang eine Dienstaufgabe. Nach längerem Nachdenken fielen mir diese auch wieder ein. Einer von uns war der GvD, zwei Jungs hatten den Tischdienst, zwei Jungs hatten den Schlafraumdienst (wir hatten ja zwei Schlafräume), einer den Gruppenraumdienst, zwei Jungs den Waschraumdienst eines Waschraumes (den anderen reinigte die Gruppe 5b), einer den WC- Dienst (also die einzelne Toilette die sich beim obersten Treppenhauspodest befand), zwei Jungs den Toilettendienst (das riesige Objekt im Keller), einer den Flurdienst, einer den Treppenhausdienst, einer den Blumendienst, einer den Wäschedienst und einer den Klassenraumdienst.

Der Tischdienst, der Klassenraumdienst und der Wäschedienst hat ja seine Aufgabe im Laufe des Tages erledigt. Der Gruppenraumdienst konnte erst anfangen, wenn wir anderen schon im Bett lagen. Der Blumendienst, der WC- Dienst und der Schlafraumdienst konnte seine Aufgabe mit Ach und Krach noch in dieser Zeit erledigen. Diejenigen saßen schon bei der Endmelodie des Sandmännchens vor der Röhre.

Die Gelackmeierten waren der Waschraumdienst, der Toilettendienst, der Flurdienst und der Treppenhausdienst. Diejenigen schaften es nicht bis 19:oo Uhr fertig zu werden. Und der GvD war bis zum Schlafengehen im Einsatz. Um 19:2o Uhr mussten aber alle fertig sein und sich im Gruppenraum versammelt haben.


19:2o Uhr Tagesauswertung

Dieses Ritual wurde täglich durchgezogen. Ob Sommer oder Winter; ob Herbst oder Frühling; ob Schulzeit oder Ferien; Wochenende oder Feiertag; egal: um 19:2o Uhr ist die Tagesauswertung abgehalten worden. In 1o Minuten waren wir damit durch. Jeder erhielt seine Tagesnote, hier und da wurde noch gerügt oder gelobt. Und dann ging der Fernseher wieder an. Auf dem Programm standen die Nachrichten der Aktuellen Kamera. Das war für uns die außerschulische Rotlichtbestrahlung.


2o:oo Uhr Fernsehabend

Von 2o:oo Uhr bis 2o:55 Uhr konnten wir dann noch irgendeinen Film sehen. Jedenfalls diejenigen, die bei der Tagesauswertung kein Fernsehverbot bekommen hatten. Dabei wollte so gar nicht rechte Freude aufkommen. Die Filme liefen meistens bis 21:3o Uhr. Also quasi mitten in der Handlung wurde der Fernseher abgeschaltet. Dann hieß es noch schnell mal aufs Klo und dann ab in die Pupsmolle, wie wir es immer so schön sagten.

Einige Male kam es vor, dass wir den Film bis zum Ende sehen durften. In den Ferien und am Samstag eigentlich immer. An den Schultagen und am Sonntag hat der Erzieher sehr oft mit der Nachtwache verhandelt. Diese musste sich dann ja um das Zubettgehen kümmern; meist um mehrere Gruppen gleichzeitig. Aber wir waren schlau genug, uns den nächsten Fernsehabend nicht zu verderben. Wir waren dann wieder ein Selbstläufer. Noch während des Filmabspanns schalteten wir den Fernseher ab und lagen, wenn die Nachtwache zur Kontrolle hoch kam, schon im Bett. Den abendlichen letzten Toilettengang erledigten wir dann nacheinander auf dem WC des oberen Treppenpodestes während des Filmes.


21:oo Uhr Nachtruhe

Warum wir zu unseren Betten Pupsmolle sagten, wissen wir selber nicht. Wenn ich im Bett lag, fühlte ich mich wohl. Ich hing noch meinen Gedanken nach und dann schlief ich zufrieden und geborgen ein.


Teil IV: Der Samstag am Nachmittag


o7:45 Uhr bis 11:25 Uhr Schule

Das Schöne am Samstag war, wir hatten nur vier Unterrichtsstunden und keine Hausaufgaben aufgetragen bekommen. An jedem letzten Samstag im Monat wurde auch nur ein Fach unterrichtet. Es hieß: Nadelarbeit. In diesem Fach erlernten wir, mehr oder weniger gut, das Reparieren von Kleidungsstücken. Meißtens waren es die eigenen, die unsere Wäschefrauen uns dann brachten.


11:25 Uhr Übergabe der Schüler an den Erzieher

Am Samstag kamen die Erzieher pünktlich. Meistens erwarteten sie uns schon. Sie ließen dann drei Gruppen auf dem Pausenhof umher rennen, um die Gruppen zeitlich versetzt losgehen zu lassen. Alle vier Gruppen gleichzeitig im Keller die Schuhe wechseln zu lassen, ging nicht geordnet von statten. Die anderen drei Gruppen folgten zeitlich versetzt nach.


gegen 11:35 Uhr Ankunft im Heim

Im Heim angekommen, zogen wir uns erst einmal um. Im Keller, dort standen unsere Hauslatschen, wechselten wir unsere Straßenschuhe mit den Hauslatschen und ein Jeder der mal auf die Toilette musste, verschwand auf der riesigen Toilettenanlage. Natürlich war auch das Hände- und Gesichtwaschen nach der Schule ein fest eingebautes Ritual.

Danach ging es hoch in unsere Schlafräume, dort wechselten wir dann die Schulkleidung mit der Alltagskleidung. Wir hatten nämlich für die Schule und für den Alltag verschiedene Kleidung. Die Schulkleidung war eigentlich nichts Besonderes. Es war keine Schuluniform oder Ähnliches, sie wurde halt nur in der Schule getragen. Die Alltagswäsche war meistens auch nicht die Neueste. Danach ging’s runter in den Speisesaal.


12:oo Uhr Mittagessen

Im Speisesaal angekommen, stellten wir uns erst einmal an der Essensausgabe an. Diese befand sich gleich rechts neben der Eingangstür. Dort erhielt jeder sein Essen, auf einem Teller bzw. in einer Essschüssel angerichtet. Samstags gab’s Eintopf. Es war Linseneintopf mit Rauchfleisch, grüner Bohneneintopf mit Rindfleisch; weißer Bohneneintopf mit Kasslerfleisch- Würfel, Erbseneintopf mit Wienerwürstchen- Scheibchen, Wrukeneintopf (besser bekannt unter dem Namen Rübeneintopf), Kohleintopf, Kohlrabieintopf, Kartoffelsuppe mit Bockwurst, roter Bohneneintopf mit Hackfleisch oder Blumenkohlsuppe; Spargelsuppe mit einem Brötchen dazu, Tomatensuppe ebenfalls mit einem Brötchen und sicherlich noch einige andere Eintöpfe und Suppen mehr. Bis auf den Wrukeneintopf, habe ich alle gern gegessen. Mein Favorit war allerdings der weiße Bohneneintopf mit Kasslerfleisch- Würfel. Die Jungs vom Tischdienst hatten zuvor die Tische mit Besteck und Kompott eingedeckt.

Als alle Jungs unserer Gruppe mit ihrem Essen auf ihren Plätzen saßen, wurden mit dem Essen begonnen. Natürlich erst nach dem der Erzieher uns einen „Guten Appetit“ gewünscht hatte. Diese erste Portion musste aufgegessen werden. Man hatte die Möglichkeit, bei der Essensausgabe die Portionsgröße zu bestimmen. Wenn einer, so wie ich beispielsweise, den Wrukeneintopf nicht mochte, sagte man einfach: „Eine halbe Portion, bitte.“ zum Küchenpersonal. Die machten diese riesige Kelle, die das Volumen der Essschüssel hatte, dann nur halb voll. Die Jungs, die nichts sagten, außer dem abschließenden „Danke“, bekamen die volle Portion. Hatte man dann noch Hunger oder Appetit, konnte nachgeholt werden.

Auch das war ein Ritual für sich. Man meldete sich, und der Erzieher fragte dann was man wolle. Meistens mit den Worten: „Ja bitte, … ?“ und er nannte den Namen des sich Meldenden. Die Antwort war dann die Gegenfrage: „Darf ich einen Nachschlag holen?“. Wenn keiner, oder nur wenige zum Nachschlag holen an der Essensausgabe standen, hieß es kurz und bündig: „Ja bitte“. Wenn dem Erzieher der Andrang an der Essensausgabe zu groß erschien, sagt er meistens: „Ja bitte, aber erst nach … “ und er nannte den Namen der vorletzten anstehenden Person. Einfach aufstehen und zur Essensausgabe gehen, ging überhaupt nicht. Alles musste schließlich seine Ordnung haben. Dieser Nachschlag musste ebenfalls dann auch aufgegessen werden. Lebensmittel wurden nicht vergeudet. Auch diese Portionsgröße konnte ja bestimmt werden.

Zwei oder drei Minuten vor dem Ende des Mittagessens wurde vom Erzieher „Mit dem Essen fertig werden!“ gesagt und wir schluckten unseren letzten Happen runter, stellten das Geschirr zusammen und der Tischdienst räumte den Tisch ab und brachte das Geschirr zur Essensausgabe zurück.


gegen 12:35 Uhr Revierdienst

Der Revierdienst war fest in den Alltag des Samstag eingebaut. In der Woche hatte man ja seine Dienstaufgabe. Der Revierdienst verschärfte das Ganze um ein Vielfaches. Denn dann wurden die Dienstaufgaben im Revier noch gründlicher erledigt. Das Revier waren unsere, von der Gruppe genutzten, Innenräume. Zu uns gehörten zwei Schlafräume und der Gruppenraum. Unserer Gruppe zugeteilt waren noch der obere Flur, das obere Treppenhaus, das WC beim obersten Podest des Treppenhauses, der zweite Waschraum und die riesige Toilettenanlage im Keller. Der Revierdienst wurde von allen erledigt. Der Schlafraumdienst, der Gruppenraumdienst, der Flurdienst, der Treppenhausdienst, der WC- Dienst, der Waschraumdienst und der Toilettendienst sind als Dienstaufgabe für die Woche ja schon vergeben. Die sechs übrig gebliebenen (der Blumendienst, zwei Jungs für den Tischdienst, der Klassendienst, der GvD und der Wäschedienst) halfen den anderen Diensten. Der Erzieher, oder auch der GvD, bestimmte, wer von den übrigen Jungs den anderen Diensten zu helfen hatte.

So kam ein Mann zum Waschraumdienst hinzu. Der Waschraum wurde dann von drei Jungs, wie wir immer sagten, geschrubbt und gewienert. Die Fliesen der Wände, das Fenster und der Heizkörper wurden gereinigt. Die Terrazzo- Waschtröge geschrubbt, die Wasserhähne und der Spiegel poliert und der Fußboden ebenfalls geschrubbt. Und das alles mit iMi (dem Universalreinigungspulver, wie auf der Verpackung geschrieben stand); die zwei Spiegel und das Fenster natürlich mit Klarofix. Mit drei Jungs war es auch eine nicht zu anstrengende Aufgabe. Wenn der Waschraumdienst dann fertig war, und er war immer vor dem Toilettendienst fertig, halfen die drei Jungs dann noch dem Toilettendienst.

Zum Toilettendienst kam ebenfalls ein Junge hinzu. Zu dritt fingen sie dann an, die Fenster, die Heizkörper, die Kloschüsseln, die Toilettenbrillen, die Toilettenbürsten (mit samt dem Ständer) und die Pinkelbeck gründlich zu reinigen. Polyklinikmäßig, sagten wir immer scherzhaft. Denn wir putzten mit Wofasept, ein Geruch wie im Krankenhaus machte sich breit. Die Toilettenanlage war riesig. Auch hier wurden die Fliesen der Wände gereinigt. Durch die halbhohe Trennwand von Kloschüssel zu Kloschüssel war die Fläche gewaltig. In der Kloschüssel durfte keine braune Ablagerung vom fließenden Wasser (wenn der Spülkasten mal wieder sein Wasser nicht hielt und die ganze Woche lang ein kleines Rinnsal lief) zurück bleiben. Hartnäckige Fälle wurden dann mit Cecapur behandelt. Ein Geruch, zusammen mit dem Wofasept, und oben drauf der Geruch von Klarofix (dem Fensterputzmittel), … wie in der Alchimistenküche. Die Armatur der Pinkelbecken war glücklicherweise aus Plaste und konnte daher nicht glänzend poliert werden. Waschbecken gab es in der Toilettenanlage nicht. Wir wuschen uns nach dem Toilettengang im Waschraum die Hände, der ja gleich nebenan lag. Dagegen war das Blechwaschbecken in dieser Toilettenanlage die reinste Qual. Es wurde vom Hausmeister angebracht, damit diejenigen, die nach dem Toilettengang sich nicht ordentlich den Hintern abwischten oder diejenigen die den letzten Tropfen beim Pinkeln nicht abschüttelten, ihre Unterhose als erzieherische Maßnahme dort waschen konnten. Es wurde aber selten für diesen Zweck gebraucht, denn durch unseren Trick 17 mit Selbstüberlistung konnten unsere Erzieher so gut wie gar nicht diese erzieherische Maßnahme anwenden. Der Trick 17 mit Selbstüberlistung war folgender: Sollten sich mal Bremsspuren oder gelbe Landkarten in der Unterhose befunden haben, wuschen wir sie heimlich während wir uns ohnehin im Waschraum wuschen. Das unangenehme war halt nur, mit nassen Unterhosen durch die Gegend zu laufen bis sie ohnehin, etwa 1o Minuten später, abgegeben wurde. Bei diesem Blechwaschbecken handelte es sich um ein emailliertes, viereckiges mit ebenem Boden versehenden Ausguss. Viele von uns nutzten es als Handwaschbecken nach dem Toilettengang. Irgendwie war es schief angebaut. Dadurch blieb immer eine Pfütze zurück, die im Laufe der Woche eine graue Ablagerung bildete. Unsere Geheimwaffe Cecapur war nur für keramische Oberflächen geeignet. Auf Emaille wurde die Oberfläche stumpf und es sammelten sich noch leichter die Ablagerungen an. Also, … iMi und Bürste, ... schrubben. Wenn die anderen drei Jungs vom Waschraumdienst dazu stießen, war die Aufgabe der Toilettenanlage reinigen bald erledigt. Meistens waren dann nur noch ein geringer Teil der Wandfliesen, die Tür und der Boden zu reinigen. Für sechs Jungs, ein Klacks.

Zum Treppenhausdienst kam ebenfalls ein Mann hinzu. Zwei Jungs putzen dann das obere Treppenhaus. Also zwei Treppen und ein Podest. Das Treppenhaus war etwa einen Meter hoch mit Paneelen an den Wänden versehen. Diese wurden mit einer Art Politur behandelt. Ebenfalls das Treppengeländer. Das Fenster brauchte nicht geputzt zu werden, jedoch das Fensterbrett. Das Fenster war sehr hoch, man würde eine Leiter benötigten. Reinigungsarbeiten auf der Leiter mutete uns man nicht zu; oder es gab irgendeine Vorschrift, die das verhinderte. An der Wand der ersten und der zweiten Treppe hing jeweils ein großes Bild. Auf dem einen war eine Waldlandschaft mit einer Lichtung und ein paar Rehe und auf dem anderen ein Feld mit ein paar Hasen im Vordergrund abgebildet. Auch diese mussten vom Staub befreit werden. Da das das letzte Podest war, war die Decke des Treppenhauses auch sehr hoch. Die Spinnengewebe mussten aber auch entfernt werden. Dafür hatten wir einen Besen, der nur für diesen Zweck eingesetzt wurde. Er war neu und bestand aus einem mehrteiligen Besenstiel, der vorher zusammengesteckt wurde. Mit diesem entstaubten wir auch die beiden Bilder. Bei dieser Aufgabe behinderte uns immer irgendwer. Und der WC- Dienst sowieso. Irgendjemand kam immer die Treppe hoch oder runter. Solange wir die Stufen noch nicht wischten, war es zwar ärgerlich, jedoch auch nur halb so schlimm. Und der WC- Dienst musste zusehen, dass er fertig wurde, bevor wir die Stufen wischten. Wir wischten dann, nach dem wir vorher die Stufen gründlich abgefegt hatten, mit 3xW (was laut Etikett Wischen, Wachsen, Wichsen heißen soll). Das Zeug war gut, gründlich wischen und der Glanz kommt von alleine. Nach dem Stufenwischen sperrten wir das Treppenhaus ab, denn dieses 3xW musste etwa eine viertel Stunde wirken und durfte nicht betreten werden.

Der WC- Dienst hatte Pech, er musste die Aufgabe alleine bewältigen. Nun gut, er hatte ja nur einen kleinen Raum mit einem kleinen Fenster, einer kleinem Heizkörper, einer Kloschüssel, einem Pinkelbecken und einem Waschbecken. Die Aufgabe war aber genau die gleiche, wie die der riesigen Toilettenanlage. Der Heizkörper, das Fenster, die Tür, das Waschbecken, das Pinkelbecken, die Kloschüssel, auch die Klobürste mit samt dem Ständer, die Wandfliesen und der Boden mussten geputzt werden. Da dieses WC nur ein kleiner Raum (eher eine Kammer) war, stand sein Putzzeug immer auf dem Podest, und somit dem Treppenhausdienst im Wege. Aber der WC- Dienst schaffte es meistens vor dem Treppewischen fertig zu sein.

Der Flurdienst hatte die gelackmeiertste Aufgabe. Es ließ sich nicht verhindern, dass irgendjemand während seines Flurdienstes über den Flur ging. Man darf dabei nicht vergessen, dass auf dem oberen Flur zwei Gruppen untergebracht waren. Einmal die Gruppe 6 und einmal die Gruppe 5a (der ich angehörte). Beide machten gleichzeitig ihren Revierdienst. Auch die Gruppe 6 hatte zwei Schlafräume, einen Gruppenraum und zusätzlich das Krankenzimmer (welches sich ebenfalls auf der obersten Etage befand). Auch dem Flurdienst wurde ein zweiter Mann dazugestellt. Diese zwei Jungs haben dann, ähnlich wie beim Treppenhaus, mit Spinnengewebe entfernen, die Paneele mit einer Politur bearbeiten, die Garderoben für unsere Jacken entstauben und das Reinigen der Bodentür und des Heizkörpers begonnen. Sobald diese beiden Jungs mit der Fußbodenreinigung anfingen, ging das Theater los. Den Flur konnte man nicht absperren. Jeder bemühte sich den beiden Jungs nicht im Wege zu stehen, es gelang nur selten. Dadurch, dass der Flur nicht abgesperrt werden konnte, wischten sie mit einem Mittel, es hieß Wischwachs, das dann mit einem Bohnerbesen poliert werden musste. Hätten sie mit 3xW gewischt und einer wäre darüber gelaufen, wären seine Fußabdrücke versiegelt worden. Diese hätten sich dann mit der vom 3xW aufgetragenen Wachsschicht ablaufen müssen. Das dauerte dann schon mal über eine Woche. So haben diese beiden Jungs einen Arbeitsschritt mehr gehabt. Sie wischten den Boden, ließen ihn dann trocknen und polierten (oder wie wir es ausdrückten: blockerten) danach mit einem Bohnerbesen (wir nannten ihn Blocker, weil auf dem Gewicht der Hersteller "Block" eingraviert war) den Flur. Lief dann einer über den Flur, konnten die Fußabdrücke weggeblockert werden. Und auf dem polierten Boden entstanden sowieso mit Hauslatschen keine Abdrücke mehr.

Auch der Schlafraumdienst hat je einen Mann dazu bekommen. Wir hatten ja zwei Schlafräume. Die Aufgaben waren hier relativ einfach. Es mussten die Nachttische und die Kleiderschränke entstaubt werden. Die Heizkörper, die Fenster und die Türen gereinigt und eventuelle Spinnengewebe entfernt werden. Um die Betten hatte sich jeder selbst zu kümmern. Die Böden wurden gefegt und mit 3xW gewischt.

Der Gruppenraumdienst hat den GvD zur Seite gestellt bekommen. Dieser war meist keine große Hilfe. Die Aufgaben des GvD‘s ruhten für die Zeit des Revierdienstes ja nicht. So ging dieser andauern vom Gruppenraumdienst fort und kümmerte sich um die Aufgaben des GvD’s. Die Aufgaben des Gruppenraumdienstes waren gewaltig. Die Schrankwand musste entstaubt und mit Möbelpolitur behandeln werden. Die Gegenstände, die zur Zierde in der Schrankwand standen, mussten ebenfalls entstaubt werden. Die Heizkörper und die Fenster mussten geputzt werden. Die Spinnengewebe an der Decke und der Staub an der Deckenlampe musste beseitigt werden. Die Regale und die Bilder an der Wand waren ebenfalls zu entstauben. Die Tische, die Stühle und die Eckbank musste auch noch gereinigt werden. Und zum Schluss der Fußboden; fegen und wischen. Das war schon für zwei Jungs eine Mamutaufgabe. Wir hatten ja nur etwa eine Stunde und 2o Minuten dafür Zeit. Aber wir hatten dafür auch eine Lösung: Der Schlafraumdienst war immer als Erster fertig. Diese vier Jungs halfen dann dem Gruppenraumdienst. Somit lag alles wieder im Zeitplan.

13:5o Uhr standen wir alle wieder auf dem Flur; geordnet, gesittet und in Zweierreihe; und der Erzieher sowie der GvD besah sich unser Werk. Es gab kaum Anlass einer Nacharbeit. Und wenn doch, dann gab’s auch Nacharbeit. Diese wurde dann ab 14:oo Uhr von den jeweiligen Jungs, die den beanstandetet Dienst ausführten, erledigt.


gegen 14:oo Uhr Fernsehnachmittag

Gegen 14:oo Uhr rückten wir in den frisch geputzten Gruppenraum ein. Wir stellten die Tische beiseite und bildeten mit den Stühlen zwei Sitzreihen, wie im Kino. Dann wurde der Fernseher eingeschaltet und wir sahen die Sendung Professor Flimmrich (die später zur „Flimmerstunde“ umbenannt wurde). Diese kam jeden Samstag um 14:oo Uhr und in den Sommerferien täglich von Montag bis Samstag.

Einige der gezeigten Filme habe ich noch in der Erinnerung; „Die Reise nach Sundewitt“ (DDR), „Lütt Matten und die weiße Muschel“ (DDR), „Alfons Zitterbacke“ (DDR), „Die Abenteuer des gelben Köfferchens“ (UdSSR), „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (UdSSR),“Die wahnsinig traurige Prinzessin“ (ČSSR), „Die drei Prinzen“ (ČSSR) und die vielen sowjetischen Märchen mit der Baba Jaga.


gegen 15:3o Uhr Vesper

Nach Professor Flimmrich gab es dann die Vesper. Am Samstag rückten wir dafür in den Speisesaal ein. Natürlich ging es vorher wieder runter in den Keller zum Händewaschen. Das war auch nötig, denn unsere Hände rochen immer noch nach Reinigungsmittel.

Es gab Kaffee (nun ja, diesen Kaffeesugeratextrakt, den Muckefuck halt) mit Milch und Zucker und dazu ein Stück Kuchen. Es war eine dicke Scheibe Napfkuchen (also Gugelhupf, Marmorkuchen, Sandkuchen und der Gleichen), ein Stück Obstkuchen (also Pflaumenkuchen, Apfelkuchen, Stachelbeerkuchen, Rhabarberkuchen und der Gleichen) oder Blechkuchen (wie Bienenstich, Käsekuchen, Streuselkuchen und der Gleichen).

Wenn einer innerhalb der Woche (vom vergangenen Sonntag bis zum jetzigen Samstag) aus unserer Gruppe Geburtstag hatte, gab’s zusätzlich noch eine Torte. Die Tortenstücke fielen dabei recht klein aus. In unserer Gruppe wurde die Torte dann in sechzehn Teile geteilt, … nun ja … aber es war was Besonderes. Wir (das heißt alle vier Gruppen, die ja wieder gleichzeitig im Speisesaal waren) sangen ihm dann noch ein Geburtstagsliedchen und die jeweilige Gruppe des Geburtstagskindes machte sich über das Tortenstückchen her. Eine weitere Ehrung gab es nicht, von Seiten des Heimes. Von Seiten des Elternhauses kamen meistens Päckchen an. Einige Eltern besuchten auch ihren Sohn am Geburtstag. Das Geburtstagskind war an diesem Besuchstag von allen häuslichen Pflichten (Hausaufgaben, Dienstaufgabe, geregelter Tagesablauf) befreit und verbrachte diese Zeit mit seinen Eltern. Meistens außerhalb des Heimgeländes.


gegen 15:5o Uhr Freizeit

Natürlich wurde diese Freizeit gelenkt, im pädagogischen Sinne. Wir unternahmen dann kleinere Ausflüge in den Wald und ließen uns die Natur erklären; oder gingen zu den Panzerkuhlen und tobten darin umher; wir sammelten im Wald Pilze oder Beeren die wir dann in der Küche abgaben und diese dann mit auf unseren Speiseplan kamen. Bei ungünstigem Wetter blieben wir im Gruppenraum. Dort bastelten wir irgendwelche Sachen aus Pape, Bundpapier oder Velourpapier.

Oder wir lasen abwechseln allen eine, meist dem Sozialismus zugewandte, Geschichte vor. Diese wurde dann auch gemeinsam ausgewertet. Ein Buch davon war „Тимур и его команда“ (Timur und sein Trupp) von Arkadi Gaidar. In diesem werden vor allem Themen wie Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt und Freundschaft dargelegt. Unsere Rotlichtbestrahlung war vom Feinsten.

Natürlich war das Schuheputzen sowie das obligatorischen Hände- und Gesichtwaschen am Schluss der Freizeitbeschäftigung mit eingebaut. Denn vom Keller aus ging es dann zum Abendbrot.


18:oo Uhr Abendbrot

Ich saß am Vierertisch. Das Abendbrot war reichlich. Auf dem Tisch standen dann ein Brotkorb und eine Platte mit Wurst, mit Buttersternchen und mit Käse. Unser Axel S. hatte einige Nahrungsmittel auf einem gesonderten Teller angerichtet bekommen, da er an einer Stoffwechselkrankheit litt.

Die Wurstplatte war jedoch nicht irgendwie portioniert. Meist war die Platte so angerichtet, dass nicht durch die Anzahl der am Tisch sitzenden Personen geteilt werden konnte. Beispielsweise lagen auf der Platte des Viermanntisches drei Salamiwurstscheiben, fünf Teewurststücke, zwei Schmelzkäseecken und Weiteres mehr. Das war auch kein Problem, denn ein Jeder hatte ja seine Vorlieben. Und es konnte nachgeholt werden. Vorausgesetzt, die Platte des jeweiligen Tisches war leer. Wenn zum Beispiel keiner der am Tisch sitzenden Teewurst mochten, musste sich mindestens einer opfern, auch diese zu essen. Aber das kam, ich kann mich jedenfalls nicht an eine solche Situation erinnern, nicht vor. Bevor nachgeholt wurde, wurden zuerst auf den Nachbartischen die wohl möglichen Reste verbraucht. War dort auch nichts mehr zu holen, gingen wir zur Essensausgabe. Brot und Wurst, aber auch Tee, konnte nachgeholt werden. Nur Butter gab‘s nicht als Nachschlag. Auch das stellte kein Problem dar, denn unter der, wir nannten es Schmierwurst (Teewurst, Leberwurst, Schmelzkäse), legten wir ohnehin keine Butter. Beim Nachholen konnten wir auch Wünsche äußern, also beim Küchenpersonal. Das Küchenpersonal nahm dann die riesige Wurst aus dem Kühlschrank und schnitt uns die gewünschte Wurst scheibchenweise ab. Manchmal, wenn Eintopf vom Mittagsessen übrig blieb, erwärmte das Küchenpersonal den Rest und verteilte es unter den Jungs in kleine Kompottschälchen.


18:3o Uhr Abend

Um 18:3o Uhr war das Abendbrot beendet. Nun hieß es, sich zu sputen. Denn das Abendprogramm um 18:35 Uhr im Fernsehen wollte keiner verpassen. Die Dienstaufgabe brauchte heute nicht mehr erledigt zu werden, denn wir taten es ja schon am frühen Nachmittag. Natürlich hat der Toiletten-, WC- und Waschraumdienst noch mal schnell kleinere Unsauberkeiten beseitigt, aber zu einem späteren Zeitpunkt.

In dieser Zeit lief am Samstag im Fernsehen die Sendung Minikino. Dort zeigten sie Trickfilme wie beispielsweise „Ну заяц, ну погоди!“ (im Deutschen „Hase und Wolf, na warte!“ benannt, original übersetzt heißt es „Nun Hase, wart’s ab“ [UdSSR]), “Arthur angyal“ („Arthur, der Engel“ [VR Ungarn]), „Bolek i Lolek“ (im Deutschen genau umgedreht „Lolek und Bolek“ benannt. [VR Polen]), „Krteček“ (im Deutschen „Der kleine Maulwurf“ benannt, original übersetzt heiß es „Maulwürfchen“ [ČSSR]), und noch viele weitere mehr. Im Anschluss kam das Sandmänchen.


19:oo Uhr Abendhygiene

Nach dem Sandmann ging es wieder runter in den Keller zum Waschen und Zähneputzen. Wir hatten 2o Minuten dafür Zeit, denn um 19:2o Uhr stand die Tagesauswertung auf dem Plan.


19:2o Uhr Tagesauswertung

Dieses Ritual wurde täglich durchgezogen. Ob Sommer oder Winter; ob Herbst oder Frühling; ob Schulzeit oder Ferien; Wochenende oder Feiertag; egal: um 19:2o Uhr ist die Tagesauswertung abgehalten worden. In 1o Minuten waren wir damit durch. Jeder erhielt seine Tagesnote, hier und da wurde noch gerügt oder gelobt. Zugleich wurden auch die Dienstaufgaben der folgenden Woche verteilt. Bei uns ging die Woche, (so wie in den fernöstlichen Teilrepubliken der Sowjetunion oder auch in der VR China) mit Sonntag los, nicht von Montag bis Sonntag, sondern von Sonntag bis Samstag.

Und dann ging der Fernseher wieder an. Auf dem Programm standen die Nachrichten der Aktuellen Kamera. Das war für uns die außerschulische Rotlichtbestrahlung.


2o:oo Uhr Fernsehabend

Von 2o:oo Uhr bis 21:3o Uhr konnten wir dann noch irgendeinen Film sehen. Jedenfalls diejenigen, die bei der Tagesauswertung kein Fernsehverbot bekommen hatten. Filme wie „Zur See“ (DDR), „Polizeiruf 110“ (DDR), „Případů majora Zemana“ („Die Fälle des Majors Zeman“ [ČSSR]), „Das Licht der schwarzen Kerze“ (DDR), „L’aile ou la cuisse“ (Brust oder Keule“ [Frankreich]) und noch viele Weitere.


gegen 22:oo Uhr Nachtruhe

Wenn ich im Bett lag, fühlte ich mich wohl. Ich hing noch meinen Gedanken nach und dann schlief ich zufrieden und geborgen ein.


Teil V: Der Sonntag und der Feiertag


gegen o6:oo Uhr, am Sonntag und am Feiertag

Die meisten waren wach. Wir sind jeden Tag; von Montag bis Samstag, um diese Zeit aufgestanden. An diesem Tag konnten wir eigentlich bis o7:3o Uhr pennen, naja … eigentlich auch nicht. Unser Biowecker hatte geklingelt. An Aufstehen war noch nicht zu denken. Die Erzieher waren noch nicht da, vermutlich pennten die noch. Ihr Arbeitsweg war ja kurz. Sie wohnten im Dorf oder auf dem Gelände. Eins, zwei, fix … und sie waren da.

Im Schlafraum wurde es nach und nach belebter. Wir unterhielten uns, wir alberten umher, wir beschäftigten uns mit Kartenspielen. Besonders beliebt war das Kartenspiel Krieg und Frieden. Einige lasen auch irgendwelche Bücher oder Zeitschriften. Zeitschriften hatten wir genug. Die Frösi, den Atze, die Trommel, das Mosaik, den Troll (ein Rätselheft) und noch jede Menge andere. Wir holten auch unerlaubter Weise Spiele aus dem Tagesraum. Die Räume waren sowieso nicht verschlossen. Nun gut … die administrativen Räume (Werkstatt, Heizungskeller, Kellerraum mit Hinterausgang, Heimleiterbüro, Sekretariat, Küche, Arzt- und Nachtwachezimmer, Zugang zum Boden mit den Mansarden), die schon. Die Schwierigkeit war nur, die Spiele wieder in den Tagesraum zurückzubekommen, ohne dass der Erzieher es merkte. Aber das bekamen wir, durch Ablenkung des Erziehers, hin.

Die Nachtwache ließ uns gewähren. Natürlich nach seinen Vorgaben; die da wären: keiner darf den Schlafraum verlassen (außer zum Toilettengang natürlich), es durfte nicht getobt werden und allzu laut durfte es auch nicht werden. Eigentlich hatte ein Jeder in seinem Bett zu bleiben und sich ruhig zu verhalten bis der Erzieher kam. Wir hielten uns nicht daran; dem Nachtwächter war das auch völlig egal, wenn wir seine Vorgaben einhielten. Und unseren GvD (Gruppenleiter vom Dienst), den haben wir sowieso ignoriert. Er wusste, sein Amt beginnt erst mit dem Aufstehen.

Wenn wir Karten spielten, mussten wir doch unsere Betten verlassen. Wir waren sieben Jungs in meinem Schlafraum. Sechs Jungs haben sich in eins der unteren Betten der Doppelstockbetten platziert und das Kartenspielen konnte beginnen. Der Siebente stand schmiere. Der musste uns rechtzeitig Bescheid geben, wenn der Erzieher die Treppe rauf kam.

Zwischenzeitlich sind wir alle schon auf dem WC beim obersten Podest des Treppenhauses gewesen. Wir waren regelmäßige Toilettengänge gewöhnt. Von montags bis freitags war der erste kurz nach o6:oo Uhr. Unsere Blase machte da am Sonntag keine Ausnahme. Wenn unser Schmierdienst uns das Achtung gab, verschwand ein Jeder wieder blitzartig in sein Bett.


o7:3o Uhr, am Sonntag und am Feiertag

Der Erzieher riss die Tür auf und rief laut, den schon allmorgendlichen bekannten Spruch: „Guten Morgen. Aufstehen und antreten zum Waschen.“ Nun sprang ein Jeder munter aus dem Bett, ein Junge aus unserem Schlafraum öffnete das Fenster (im Sommer, wie auch im Winter), jeder zog sein Pyjamahemden aus und legte es auf seinem Bett ab, jeder schnappte sich seine Waschtasche aus seinem Nachtschrank und stellte sich, nur noch mit der Pyjamahose bekleidet, auf dem Flur auf. Das Ganze dauerte wohl keine Minute.

Der GvD stellte die Vollzähligkeit fest und führte uns dann in den Keller, in dem die beiden Waschräume mit den Terrazzo- Waschtrögen, die Groß- Toilettenanlage und der Raum für die Handtücher sowie für die Straßenschuhe bzw. die Hauslatschen sich befanden. Nach dem allmorgendlichen Toilettengang und der allmorgendlichen Hygiene, führte uns der GvD wieder zu unseren Schlafräumen zurück. Der Gruppenraum und die Schlafräume befand sich, als ich in der Gruppe 4a (1976/77) war, in der 1. Etage ganz hinten; als ich dann in der Gruppe 5a (1977/78) war, im Dachgeschoss, ebenfalls im hinteren Bereich.

Nachdem wir wieder vom Waschen und vom Toilettengang zurück in das Dachgeschoss angelangt waren, hieß es vom GvD: „Bett machen, anziehen und auf dem Gang antreten. Zeit: 1o Minuten“. Wir machten unsere Betten, stopften fein säuberlich den Pyjama in das gefaltete Kissen und zogen uns an. Auf den Nachttischen lagen exakt gefaltete Päckchen; so nannten wir unsere, am Vorabend zurechtgelegte Kleidung. Diese nahmen wir.

Wie man schon erkennt, ist der Tagesanfang, ab dem Aufstehen, der gleiche wie von Montag bis Samstag; er ist nur um 11/2 Stunden verschoben und die Dienstaufgabe musste nicht ausgeführt werden. Denn am Samstag hatten wir ja die Revier- Großreinigung absolviert, und am Feiertag belastete man uns damit nicht am Morgrn. Auch der allmorgendliche Rundgang durch die Räume, deren Sinn die Kontrolle der Sauberkeit und Ordnung war, wurde vom Erzieher nicht ausgeführt. Das machte der GvD allein. Seine Kontrolle beschränkte sich dabei auf den ordnungsgemäßen Bettenbau.


o8:oo Uhr, am Sonntag und am Feiertag

Wir rückten ab, zum Frühstück. Der Tischdienst, der war schon lange unten im Speisesaal und deckte die Frühstückstische ein. Der Speisesaal befand sich in der Parterre. Eigentlich waren es zwei riesige Räume, die mit einer riesigen mehrflügeligen Tür verbunden waren. Die Sockel der Wände waren mit dunklem Holz verkleidet. Gleich neben dem Eingang in den ersten Raum war die Essensausgabe.

Das Küchenpersonal hatte die sonntäglichen Menüplatten für jeden Tisch angerichtet. Am Vierertisch lagen zum Frühstück dann gewissermaßen 8 Stückchen Butter, weniger Wurst als sonst, und auch weniger Käse. Dafür aber eine größeres Schlüsselchen mit Marmelade und ein riesiger Pappbecher Honig ... nun ja … diesen Kunsthonig mit 3o% Bienenhonig. Statt des Honigs, stand auch öfter, ebenfalls in einem riesigen Pappbecher, der Zuckerrübensirup. Dazu gab’s Kakao. So richtigen Kakao. So wirklich richtigen, und nicht solchen Instant wie heutzutage das Trink-Fix oder der Kaba. Der wurde von den Küchenfrauen noch richtig gekocht. Er war heiß und bildete in der Tasse dann diese Sahnehaut. Ich mochte diese Sahnehaut nicht und Renke- Dennis V., der links neben mir saß, fischte sie sich raus. Und das Allerbeste: es gab Brötchen; die ganz einfachen und die Knüppel (heutzutage würden wir Mini- Baguette zu den Knüppeln sagen).

Beim Essen herrschte absolute Stille. Keiner redete oder hampelte rum. Die Erzieher saßen mit an einem Tisch unserer Gruppe und frühstückten ebenfalls. Sie hatten das gleiche Essen wie wir. Natürlich mit einer Ausnahme; sie hatten ein Kännchen echten Bohnenkaffee. Sollte einer von uns dann doch mal gequatscht oder sich um das größere Stückchen gerangelt haben, dann gab’s vom Erzieher eine Strafe. Sie bestand meistens darin, dass derjenige der quatschte, oder diejenigen die sich rangelten, aufstehen und sich hinter den Stuhl stellen durften. Für diejenigen war das Frühstück dann beendet. Die höfliche Frage: „Reiche mir mal bitte den Honig rüber.“ zählte nicht als Gequatsche. Ganz im Gegenteil; das war ein Teil unserer Erziehung. Wie man merkt, es war immer das gleiche Verhaltens- Ritual. Gegen o8:3o Uhr war das Frühstück beendet und die gelenkte Freizeit begann.


o8:3o Uhr, am 1. Sonntag im Monat

Es wurde die Briefstunde abgehalten. Diese sollte dann auch tatsächlich 11/2 Stunden andauern, bis 1o:oo Uhr. Ein Jeder schrieb dann einen Brief nach Hause zu seinen Eltern. Jeder hatte auch sein eigenes Briefpapier. Das war so eine Mappe mit Briefumschlägen die irgendwie bunt waren; und Briefpapierblätter, passend zu den Umschlägen, auch bunt. Und jeder hatte auch irgendwie einen Kugelschreiber. Wir schrieben gerne damit, denn in der Schule gab’s nur den Füllfederhalter.

Ich hatte sogar einen Vierfarbkuli. An der Seite waren so kleine Nocken, mit denen man die gewünschte Farbmine einstellte. Und damit war so ein Brief doch schnell geschrieben.

Liebe Mutti und lieber Vati!

Wie geht es Euch? Mir geht es gut. Ich habe das und das gemacht … Demnächst machen wir das und das … und zum o1. Mai basteln wir noch ein paar Friedenstauben und kleben sie an die Fenster …. blahblahblah .... In der Schule läuft’s auch ganz gut … Liebe Grüße von mir an Oma, Opa, Omi, Opi, P……, H…. . und E… .. (meine Geschwister).

Herzliche Grüße aus Sigrön, Euer Uwe. Fertig.

Wenn man langsam war, war man in 2o Minuten fertig. Der Erzieher zog das 11/2 Stunden lang hin. Er korrigierte die Briefe in der Orthographie und in der Grammatik; formulierte einige Sätze um. Worte wie mussten und sollten durften nicht vorkommen, denn nun ja … von seitens der Pädagogen möchten wir gerne und wollten wir gerne und auch hätten wir gerne. Negatives wurde auch gestrichen. Ich hatte mal, sinngemäß, schreiben wollen:

… Gestern, am Samstag, war wieder Eintopftag. Da gab es wieder diesen schrecklichen Wrukeneintopf und ich musste eine halbe Portion davon essen. Scheußlich, ich mag ihn aber nicht. Lieber hungere ich. ...

Ohh, da war das Drama ausgebrochen. Es hieß dann, sinngemäß, von seitens des Erziehers:

„Das interessiert doch deiner Mutti und deinem Vati nicht. … Glaubst du, dass du zu Hause eine Extrawurst gebraten bekommst. … Zu Hause wird doch gegessen, was auf den Tisch kommt. … Deine Eltern arbeiten schwer dafür. … Und glaubst du wirklich, dass deine Eltern froh darüber sind, wenn du hungerst. … Also, der Satz verschwindet und du schreibst lieber noch was über unseren letzten Waldspaziergang.“

Tja. … Da war bei diesen Argumenten mein Latein am Ende. Ich hatte dann so bei mir gedacht: „Zu Befehl, Herr Oberstudienrat! Wird ausgeführt!“ Diskusionen mit den Pädagogen gab’s nicht.


o8:3o Uhr, am 2. Sonntag im Monat sowie am 4. Sonntag wenn es im Monat 5 Sonntage gab

An diesem Sonntag entschieden die Erzieher über die Beschäftigungsart. Meistens waren es gemeinsame Aktivitäten mit allen vier Gruppen; die sich dann auch bis in die Abendstunden hinein zog. Beispielsweise: Wanderungen durch den Wald, die mit einem kleinem Lehrgang der Natur verbunden waren; eine Schnipseljagt, bei der an Hand einer mit Papierschnipsel ausgelegten Fährte eine andere Gruppe gefunden werden sollte; ein Fußballturnier; oder der sogenannte Orientierungslauf; mit Karte und Kompass dem eingetragenem Ziel entgegen.

Am Vormittag waren diese Aktivitäten auf dem Heimgelände und der näheren Umgebung beschränkt, sodass wir wieder pünktlich um 12:3o Uhr in den Speisesaal zum Mittagessen einrücken konnten. Nach dem Mittagessen ging diese Freizeitaktivität dann bis zum Abend weiter. Unser Tischdienst hatte dann die zusätzliche Aufgabe, den Vesperkorb mitzuschleppen.


o8:3o Uhr, am 3. Sonntag im Monat

Bis 1o:oo Uhr waren irgendwelche Buchlesungen dran. Sie sollte auch nur bis 1o:oo Uhr gehen, wurde aber meistens bis zum Mittagessen, um 12:3o Uhr, überzogen. An einer solchen Buchlesung erinnere ich mich noch:

Es war das Buch „Тимур и его команда“ von Arkadi Gaidar; natürlich die deutsche Fassung: „Timur und sein Trupp“. Wenn meine Erinnerung mich nicht all zu sehr im Stich lässt, geht es in dem Buch um einen Jungen namens Timur Garajew. Er ist 14 Jahre alt und hilft den zurückgebliebenen Frauen dessen Männer (die Rotgardisten) in der Roten Armee an der Front kämpfen oder schon für „Vaterland, Ruhm und die Ehre“ bei der Befreiung vom zaristischem Machtsystem in der wirren Zeit der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ fielen. Er lebt in einem tatarischen Dorf und leistet heimlich seine Hilfe; denn die Gegner, die Weiße Armee (die Weißgardisten), unterbinden solche Aktivitäten; meistens durch standrechtliche Hinrichtung. Um ihn bildet sich eine Truppe (команда) gleichgesinnter und gleichaltrigen Jungen. Timur ist der Anführer und sie nennen sich „команда Тимура“ (Timur- Truppe). Die Arbeit der Timur- Truppe ist nicht einfach, da es im Dorf eine gegnerische Gruppe gibt, die eher der Weißen Armee gewogen ist und die häufig die Obstgärten der Anwohner plündern und damit gegen Timur und seine Freunde agiert. Als die 13- jährige Schenja Urlaub in Timur‘s Heimatdorf macht, bringt sie den Timur- Trupp kräftig durcheinander. Sie wankt zwischen beiden Gruppen und entscheidet sich für den Timur- Trupp; dadurch gewinnt sie viele neue Freunde und überzeugt einzelne Jungen von der gegnerischen Gruppe in die Timur- Truppe zu wechseln. Der Inhalt des Buches vermittelt die Hilfsbereitschaft, den Zusammenhalt und die Freundschaft in einer sozial verbindenden Gemeinschaft.


o8:3o Uhr, am letzten Sonntag im Monat

Wir wurden, eine Stunde nach dem Aufstehen, schon rotlichtbestrahlt. Von o8:3o Uhr bis 1o:oo Uhr wurde die Wandzeitung für den Feier- bzw. Gedenktag des nächsten Monates neu gestaltet. Große Geschehnisse warfen auf ihr die Aura Jahrhunderte voraus.

Themen wie: Weltfriedenstag (o1.o9.’46) im September; Tag der Republik (o7.1o.‘49) im Oktober; Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in der UdSSR (o7.11.‘17) im November; Tag der Thälmann- Pioniere (13.12.‘48) im Dezember, Karl Liebknecht‘s und Rosa Luxemburg’s Ermordung (15.o1.‘19) im Januar, Tag der Zivilverteidigung (11.o2.’58) im Februar, Internationaler Frauentag (o8.o3.’21) im März sowie Gründung der SED (21.o4.’46) im April. Und der Mai hatte es dann in sich. Drei Ereignisse sollten im Zusammenhang auf ihr angebracht werden. Es war der Internationale Kampf- und Feiertag der Werktätigen (o1.o5.’33), der Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus (o8.o5.’45) und der Tag der Ermordung des Kommunisten Artur Becker (16.o5.’38), dessen Name unser Heim ja trug. Im Juni war dann der Tag des Lehrers (12.o6.’51), im Juli der Tag der Deutschen Volkspolizei (o1.o7.’45) und schließlich im August der Tag des Potsdamer Abkommens (o2.o8.’45) dran. Ja, ja; die Rotlichtbestrahlung war vom Feinsten.


ab 1o:oo Uhr bis 17:45 Uhr, am Sonntag

Es war Freizeit angesagt. Diese vormittägliche Freizeit ab 1o:oo Uhr wurde jeden Sonntag gleich gestaltet; vorausgesetzt, die vorhergehende Beschäftigung wurde nicht bis zum Mittagessen ausgedehnt. Diese Freizeit war dann witterungsabhängig. Bei schlechtem Wetter blieben wir gleich im Tagesraum und holten die Spiele aus den Schränken. Mühle, Dame, Mensch ärgere dich nicht, Halma, Rommé… Wir hatten auch Stabilbaukästen, PeBe- Bausteine (so was Ähnliches wie das heutige LeGo), Knobelspiele… An Spielzeug mangelte es nicht.

Bei gutem und schönem Wetter ging‘s raus in die Natur. Meistens zu den Panzerkuhlen, mitten im Wald. Dort tobten wir uns so richtig aus. Wenn wir im Gelände blieben waren wir meistens auf dem Sportplatz vor dem Schulgebäude. Dort trafen wir auch meistens auf eine andere Gruppe. Doch dann, zu meinem Leidwesen, wurde wieder Fußball gespielt. Ich konnte, bis heute, nichts Gutes an dieser Art der Freizeitbeschäftigung finden. Ich saß dann, meistens mit meinem Kameraden Axel S., am Spielfeldrand und wir spielte Karten; oder wir sahen gelangweilt dem Fußball- Treiben zu. Gegen 12:3o Uhr rückten wir zum Mittagessen in den Speisesaal ein.

Der Nachmittag lief dann so weiter. Und zwischendurch rückten wir zum Vesper in den Speisesaal ein. Irgendwelche Waldspaziergänge mit anschließendem Toben in den Panzerkuhlen; oder weitläufige Rundgänge durch das Heimgelände wurden veranstaltet.

Wir hatten ja zwischen dem Heimgebäude und der Schule einen Park mit einem Teich. An ihm führten rechts der Schülerweg und links der Lehrerweg vorbei. Um den Teich wuchsen auch allerhand Pflanzen, und im Teich blühten die schönsten Teichrosen. Im Teich schwammen Enten. Es waren Eider- Enten. Also ganz besonders bunte.

Am Lehrerweg waren mehrere Gehege mit allerlei Sorten von Wildschweinen aufgebaut. Die bekamen auch regelmäßig ihren Nachwuchs. Es sah interessant aus, wenn alle Frischlinge an der Bache lagen und gesäugt wurden. Der Keiler sah das wohl nicht so gerne. Wir mussten sehr oft die Besichtigung dieser Gehege abbrechen, da der Keiler verrücktspielte.

Am Schülerweg befand sich eine große Voliere mit allerhand Sittichen und Zwerghühnern darin. Und dann war noch die Voliere für unseren Egon und Madame. Egon war unser Pfau. Der muss wohl an die hunderte von Jahren alt sein, denn irgendwie berichtet jede Heimgeneration von Egon und Madame. Es wurden natürlich immer nur die Namen übernommen. Deren Voliere war immer geöffnet. Er und Madam stolzierten den ganzen Tag im Park umher. Nur abends waren sie in der Voliere.

Hinter der Schule stand ein Gehege mit Ziegen. Wenn der Bock nicht an seine Mädels kam, störte der durch sein Gebrüll immer den Unterricht.

Um den Teich kreuchte und fleuchte so manches Kleintier herum. Frösche und Ringelnattern gab es dort. Auch Igel krochen dort umher. In den Bäumen waren die Eichhörnchen. Und der Buntspecht klopfte auch im Frühjahr. Spinnen unterschiedlichster Art und allerlei Insekten lebten dort. Es war eigentlich ein Paradies für das Getier. Ich mochte diesen Parkspatziergang sehr. Er war ja auch immer ein kleiner Lehrgang. Doch gegen 17:45 Uhr holte uns der alltägliche Trott wieder ein.


o8:3o Uhr bis 17:45 Uhr, am Feiertag

Dieser Tag wurde im Zeichen des jeweiligen Feiertages gestaltet und zog sich bis gegen 17:45 Uhr hin. Gegen 12:3o Uhr war Mittagspause. Wir rochen schon am Vormittag, was es zu Mittag an Essen gab. Die Tür der Küche mündete in das Treppenhaus und der Geruch des Kochens machte sich im Haus breit. Es war, so nannten wir es immer, der Sonntagsbraten. Kotelett mit Mischgemüse, Kartoffeln und Soße; Sauerbraten mit weichgekochtem Sauerkraut, Kartoffeln und Soße; Gulasch mit kurzen Makkaroni; Broilerteile mit Kartoffeln, Soße und Gemüse; oder auch, das war mein sonntäglicher Favorit, Zwiebelkuchen (heutzutage würden wir Zwiebelpizza dazu sagen). Man kann sich bestimmt vorstellen, dass wir unheimlichen Hunger hatten. Die vormittägliche Beschäftigung zerrte an uns, dementsprechend hauten wir beim Essen auch ordentlich rein. Kartoffeln, Soße und Gemüse konnte reichlich nachgeholt werden.

Am Nachmittag gab’s dann zwischendurch die Vesperpause. Es wurde Blech- oder Napfkuchen gereicht. Dazu gab’s Muckefuck (der Kaffeesugeratextrakt) in Thermoflaschen mit Einweg- Trinkbechern.


Am Tag der Republik (o7. Oktober), der Tag begann wie ein Sonntag, da er ja schulfrei war. Es wurden Bild- und Ton- Vorträge über die Gründung der DDR abgehalten. Die Nachrichten der Aktuellen Kamera wurden verfolgt und im Nachhinein die Rede des Erich Honecker (Generalsekretär des Zentralkomites der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands [SED], Vorsitzender des Staatsrats der DDR und Staatsoberhaupt der DDR) ausgewertet. Natürlich wurde vorher ein Fahnenapell auf dem Schulhof abgehalten. Lob und Tadel wurden bei diesem verteilt; Selbstverpflichtungen abgegeben, die eine Bereitschaft zu besseren Lernergebnissen beinhaltete. Irgendein politisch wertvoller Film wurde im Fernsehen geguckt, und dann war es auch schon wieder 17:45 Uhr.


Am Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in der UdSSR (o7. November) wurde Ähnliches veranstaltet. Dieser war zwar ein Feiertag, jedoch kein schulfreier Feiertag. Wir begingen ihn 1976 an einem Sonntag und 1977 an einem Montag. Der Tag begann genauso wie jeder andere Tag zu dem jeweiligen Wochentag; mit dem Unterschied, dass unsere Freizeit auf dieses Ereignis ausgerichtet war. Den ganzen Vormittag hörten wir Vorträge vom Ruhm, der Ehre und dem Heldentum der Sowjetunion. Am frühen Nachmittag wurde dann per Интервидение (Intervision) live auf das 2. Programm des DDR- Fernsehens der Московский Кремль (Moskauer Kreml – Sitz der Sowjetregierung) geschaltet und eine Ansprache von Leonid Iljitsch Breschnew (Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion [KPdSU], Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjet und Staatsoberhaupt der Sowjetunion) in alle damaligen sozialistischen Staaten über unseren Berliner Fernsehturm übertragen. Diese hörten wir uns an und werteten sie anschließend aus. Danach lief dann bis zum Abendbrot eine Sondersendung des DDR- Bildungsfernsehen „Для друзей русского языка“ („Für Freunde der russischen Sprache“). In dieser wurde dann ein mehrteiliger sowjetischer Kriegsfilm im Originalton (mit Untertitel) gezeigt. War der zu Ende, war es auch schon 17:45 Uhr.


Im Dezember ist der Tag der Thälmann- Pioniere (13. Dezember) begangen worden. Der Tag wurde genauso wie jeder andere Schultag bestritten; mit dem Unterschied, dass unsere nachmittägliche Freizeit auf dieses Ereignis ausgerichtet war. Unsere Freizeit wurde dann mit dem Lesen und dem Auswerten der „Trommel“ (eine Zeitschrift der Jungpioniere) verbracht; es wurden Filme im DDR- Kinderfernsehen angeschaut, die an diesem Tag auch das Thema behandelten. Beispielsweise: „Die Reise nach Sundevit“. Ein Junge der Jedem hilf und dabei seine eigenen Interessen immer weiter nach hinten verschiebt. War der zu Ende, war es auch schon wieder 17:45 Uhr.


Der Nächste war, der Gedenktag an Rosa Luxemburg‘s und Karl Liebknecht’s Ermordung (15. Januar). Seltsamerweise wurde der immer an einem Sonntag begangen. Der Tag fing für uns dann auch wie ein Sonntag an und die Aktivitäten lagen den ganzen Tag über, bei diesem Ereignis. Am Vormittag sahen wir im 2. Programm des DDR- Fernsehens eine Übertragung von der Gedenkveranstaltung an der berliner Gedenkstätte der Sozialisten. Am Nachmittag lief dann bis 17:45 Uhr wieder irgend ein Film zu diesem Thema.


Der Internationale Frauentag (o8. März) wurde von uns schulfrei begangen; obwohl er nicht schulfrei war. Wir standen auf, wie am Sonntag. Das weibliche Personal (also die Erzieherinnen und Lehrerinnen) des Heimes hatte frei und wurde von uns verwöhnt.

Einige Jungs, und ich war mit dabei, halfen den ganzen Tag den Küchenfrauen. Sowas wie Geschirr abwaschen, Menüplatten für das Abendbrot vorbereiten, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen, Müll raus schaffen und weitere einfache Hilfsarbeiten; um die Küchenfrauen an diesem Tag zu unterstützen. Einige andere Jungs halfen den ganzen Tag im Wäschehaus den Wäschefrauen. Sie legten Wäsche zusammen, ordneten sie und legten sie in die jeweiligen Fächer, hängten Wäsche auf und nahmen sie trocken wieder ab. Die männlichen Pädagogen haben uns an diesem Tag beaufsichtigt.

Vormittags trafen wir das gesamte weibliche Heim- Personal (einschließlich der Wäschefrauen, den Küchenfrauen, der Reinigungskraft) im Kultursaal. Wir sangen ihnen fröhliche Lieder und gaben ihnen, je nach ihrem Fach, Rätsel auf. Wir fanden jedoch keine, die sie nicht lösen konnten. Dieses Programm wurde von und mit unseren, nur männlichen, Pädagogen in unserer Freizeit einstudiert.

Den Nachmittag haben wir dann zu Hause bei den weiblichen Pädagogen verbracht. Sie wohnten ja im Dorf oder in kleinen Häuschen auf dem Gelände. Kleine Aufgaben gaben sie uns; sowas wie die Haustür ölen, oder den Briefkasten wieder gerade aufhängen, oder mithelfen eine alte Kiste vom Boden zu holen … Zum Dank an uns, gaben sie uns dann reichlich zum Naschen, Kakao, und auch Kuchen. Eine der Küchenfrauen gab mir dann zum Dank für die ganztägliche Hilfe ein riesiges Stück Torte, meinen mithelfenden Kameraden natürlich auch, und ein Kännchen Bohnenkaffee. „Ihr ward heut‘ so fleißig, wie die Erwachsenen,“ hieß es, „da habt ihr Euch den Bohnenkaffe so richtig verdient.“

Viel später, als ich anfing Bohnenkaffee zu trinken, bemerkte ich, dass dieser, zum Dank verabreichte Bohnenkaffe, mit Muckefuck (dem Kaffeesugeratextrakt) gemischt war. Aber, zum damaligen Zeitpunkt war es für uns so richtiger Bohnenkaffee; so wie sie unsere Pädagogen bekamen. Intellektuell waren wir auf deren Stufe erhoben worden. Das erhob unseren Stolz in der Brust.

Nach diesem Feiertagsbegängnis war das Verhältnis zwischen Pädagoge und Heimkind viel entspannter. Wir lernten an diesem Tag die Pädagoginnen von einer anderen Seite kennen. Diese Erkenntnis übertrugen wir auch auf die Pädagogen. In weitabständiger Überlegung denke ich, dass dieses Ereignis von den Pädagogen geplant und abgehalten wurde, um das Verhältnis zwischen Heimkind und Pädagoge im Sinne der vorbestimmten Erziehung positiv zu beeinflussen.

Gegen 17:45 Uhr waren wir alle wieder im Heim, in die jeweiligen Gruppen, zurückgekehrt.


Der nächste Feiertag, der nicht schulfrei war, war der Tag der Vereinigung der SPD und KPD zur SED (21. April), quasi die Gründung der SED. Auch dieser Tag wurden wie ein Schultag verbracht; eben mit dem Unterschied das die Freizeit bis 17:45 Uhr auf dieses Ereignis ausgerichtet war.


Der Mai hatte es dann wieder in sich. Der o1. Mai, dem Internationale Kampf- und Feiertag der Werktätigen und der o8. Mai, dem Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus fing wie ein Sonntag an. Der o1. Mai war ja schulfrei; der o8. Mai nicht. Wir begingen ihn trotzdem schulfrei. Nach dem Frühstück gingen wir in den Tagesraum, der Fernseher wurde eingeschaltet und wir verfolgten bis zum Mittagessen die Sondersendungen der Aktuellen Kamera, hörten den Ansprachen des Politbüro der SED, den Ansprachen von unserem Staatsratsvorsitzenden und den Ansprachen der Großen Maikundgebung zu. Dann ging‘s zum Mittagessen. Danach ging die Prozedur weiter. Am frühen Nachmittag zeigte das Fernsehen dann irgendein politisch wertvollen Film, beispielsweise: Nackt unter Wölfen oder Ernst Thälmann, Sohn seiner Klasse. Das zog sich dann bis 17:45 Uhr hin.


Der Tag der Ermordung des Kommunisten Artur Becker (16. Mai) wurde (so empfand ich es) einfacher begangen. Am Vormittag ist ganz normal der Schulunterricht erteilt worden. In der letzten Unterrichtsstunde fand ein Fahnenapell statt. Lob, Tadel, Selbstverpflichtung … all der Kram war wieder mit von der Partie. Nach diesem Fahnenappell sind wir wieder zurück in die Klassenräume und haben unsere Hausaufgaben sofort erledigt. Danach ging‘s in den Kultursaal (er befand sich neben dem Heimleiterbüro), und dort war schon eine mobile Kinostation aufgebaut. Wir bekamen dann den Film „Artur Becker“ zu sehen. Alle Jungs des Heimes waren anwesend bei dieser Vorführung. War der Film vorbei, war es auch schon wieder 17:45 Uhr.


Dann war der Internationale Tag des Kindes (o1. Juni) dran, und zugleich mein Geburtstag. Er begann wie ein normaler Schultag. Wir gingen auch zur Schule, jedoch wurden nicht unterrichtet.

o1. Juni 1977, mein 12. Geburtstag. Zuerst wurde der obligatorische Fahnenappell abgehalten. Danach ging‘s in die Turnhalle. Dort zogen wir unsere Sportsachen an. Am Vormittag wurde ein sportlicher Einzel- Wettkampf abgehalten. 60m- Lauf, Weitsprung, Weitwurf, Klimmzüge … das sind so einige Sportarten, die mir ad hoc einfallen.

Das Mittagessen kam dann aus einer Gulaschkanone der CA (Советская Aрмия = Sowjetische Arme), oder genauer gesagt der ГСВГ (Группа советских войск в Германии = Gruppe sowjetischer Streitkräfte in Deutschland). Irgendwo in der Nähe war eine Kaserne dieser Streitkräfte stationiert. Ich glaube es war in Perleberg.

Das war natürlich ein großes Ereignis in unserem streng reglementierten Tagesablauf. Wir standen richtigen sowjetischen Soldaten gegenüber; großen, kräftigen Kerlen in einer akkurat sitzenden Uniform. Sie waren wohl so um die 25 oder 26 Jahre alt. Sie sprachen kein Deutsch, sie sprachen Russisch. Die Russischlehrerin übersetzte dann so Einiges. Sie animierte uns auch Russisch zu sprechen, denn ab der 5. Klasse erlernten wir ja diese Sprache.

Wir begutachteten hre Technik. Sie kamen mit einem „Урал командная“ (Ural Kommandowagen) und an dem hing die Gulaschkanone. Das ganze Cockpit war in Russisch beschriftet. Ich, der noch kein Russisch konnte, versuchte diese Beschriftungen zu lesen. Das Tachometer (км/ч) war für mich dann mit KM/4 beschriftet. Die Aufschrift des Drehzahlmesser (Об/мин) war für mich O6/MNH. Das war zwar alles verwirrend, aber es ist ja auch Russisch, also ganz was Anderes; so dachte ich es mir damals. Ein Wort konnte ich sogar lesen, das glaubte ich jedenfalls: Москва = Mockba (geschrieben: Москва <> richtig gesprochen: Moskwa). Ich las dem sowjetischen Soldaten das Wort mit „Mockba“ vor. Nach einer kurzen Rücksprache mit unserer Russischlehrerin, ich glaube sie hieß Frau Tilltmann, brach er in einem Lachanfall aus. Dann nahm er mich in seine Arme und sagte (auf Russisch; unsere Russischlehrerin übersetzte es mir dann) „Das wirst du noch lernen; hab‘ Geduld.“

Diese sowjetischen Soldaten strahlen irgendwie eine Art der Geborgenheit aus. Ich weiß nicht warum ich so fühlte. Sicherlich hat die Rotlichtbestrahlung, die ja immer nur so lehrplanmäßig mit trockenen Dia- Vorträgen und mit Filmen abgehalten wurde, damit zu tun. Wir hatten es plötzlich vor unseren Augen. Wir sahen in ihnen die Retter der Welt; wir waren aber auch zu diesem Zeitpunkt recht gutgläubig.

Die Klasse 5 sang mir dann noch ein russisches Geburtstagslied. Dieses studierten sie im Russischunterricht ein. Die sowjetischen Soldaten kannten es sehr gut und setzten mit ein. Ich war beeindruckt; diese kräftigen Männerstimmen mit unseren piepsigen Lauten dazwischen; eine gute Mischung. Ich verstand natürlich kein einziges Wort, es war ja Russisch. Link zum Geburtstagslied: ► Я играю на гармошке

Nach dem Mittagessen aus der Gulaschkanone (es gab Гороховый рагу = ein Erbseneintopf nach russischem Rezept) setzte dann der sportliche Mannschafts- Wettkampf ein. Es waren vier sowjetische Soldaten und ein, nun ja … ich würde Komandierender sagen, denn der hatte mehr Sterne auf der Schulterpaliette. Die Soldaten machten, je einer in einer Gruppe, mit. Sie feuerten uns an, mit „Быстрее, быстрее!“ („Schneller, schneller!“) und „Давай, давай!“ („Nun los, los doch!“). Wenn sie merkten, dass ihre Mannschaft nachließ, schlepten sie die schwächeren im Huckepack ins Ziel. Bei der Auswertung gab’s dann, nach dem Punktestand, keinen 4., 3. oder 2. Platz. Der ganze Trubel zog sich bis zum späten Abend hin.

Die Gulaschkanone hatte noch genügend übrig, so aßen wir uns zum Abendbrot noch an den Resten des Mittagessens satt. Zum Dank an die sowjetischen Soldaten sangen wir alle dann noch ein russisches Pionierlied. Die Klasse 3, 4a (der ich 1977 angehörte) und 4b auf Deutsch, die Klasse 5 auf Russisch. Auch dieses wurde im Musikunterricht und im Russischunterricht einstudiert. Die Klasse 5 hat den Text im Unterricht übersetz. Es gibt eine deutsche Version, die aber vom russischen Text stark abweicht. Wir sangen alle 5 Strophen abwechselnd auf Deutsch und auf Russisch. Die sowjetischen Soldaten hatten Tränen in den Augen, als dann die 4. Strophe erklang.


Пусть всегда будет солнцe

Möge es immer Sonnenschein geben

автор слов: Лев Ошанин

Text: Lew Oschanin

перевод на немецкий: Уве Яaнке (1978г.)

Übersetzung ins Deutsche: Uwe Jahnke (1978)

Солнечный круг, небо вокруг,

это рисунок мальчишки.

Нарисовал он на листке,

и написал в уголке:

2x

Пусть всегда будет солнце,

пусть всегда будет небо,

пусть всегда будет мама,

пусть всегда буду я!


Ein Sonnenkreis, der Himmel drum rum,
das ist die Zeichnung des Jungen.

Er malte auf Papier und dann schrieb er

in die Ecke des Bildes:

2x

Möge es immer Sonnenschein geben,
möge es immer den Himmel geben,
möge es immer Mama geben,
möge ich immer dabei sein!

Милый мой друг, добрый мой друг,

людям так хочется мира.

И в тридцать пять сердце опять
Не устаёт повторять:

2x

Пусть всегда будет солнце,

пусть всегда будет небо,

пусть всегда будет мама,

пусть всегда буду я!


Mein lieber Freund, mein guter Freund,

die Menschen woll‘n in Frieden leben.

Und mit hundert (eigentlich 35) Herzen, werden wir …
werden wir es wiederholen:

2x

Möge es immer Sonnenschein geben,

möge es immer den Himmel geben,

möge es immer Mama geben,

möge ich immer dabei sein!


Тише солдат, слышишь солдат,
люди пугаются взрывов.

Тысячи глаз в небо глядят.

Губы упрямо твердят:

2x

Пусть всегда будет солнце,

пусть всегда будет небо,

пусть всегда будет мама,

пусть всегда буду я!


Still Soldat, hörst du den (gegnerischen) Soldaten?

Menschen haben Angst vor Explosionen.

Tausende Augen blicken in den Himmel.

Und wir bestehen immer wieder darauf:

2x

Möge es immer Sonnenschein geben,

möge es immer den Himmel geben,

möge es immer Mama geben,

möge ich immer dabei sein!

Против смерти, против нужды,
за нашу мирную жизнь!

Вы охраняете нашу жизнь

днем и ночью.

2x

Пусть всегда будет солнце,

пусть всегда будет небо,

пусть всегда будет мама,

пусть всегда буду я!


Gegen den Tod, gegen die Not,

für unser friedliches Leben!

Bei Tag und Nacht haltet ihr Wacht,

die unser Leben beschützen.

2x

Möge es immer Sonnenschein geben,

möge es immer den Himmel geben,

möge es immer Mama geben,

möge ich immer dabei sein!


Против беды, против войны,

станем за наших мальчишек

Солнце навек, счастье навек,

так повелел человек.

2x

Пусть всегда будет солнце,

пусть всегда будет небо,

пусть всегда будет мама,

пусть всегда буду я!


Gegen Ärger, gegen Krieg,

schütz ihr uns Kinder.

Die Sonne für immer, das Glück für immer,

so befahl es ein Mann: (gemeint ist Wladimir Iljitsch Lenin)

2x

Möge es immer Sonnenschein geben,

möge es immer den Himmel geben,

möge es immer Mama geben,

möge ich immer dabei sein!


o1. Juni 1978, mein 13. Geburtstag: Zuerst wurde, wie im Vorjahr auch, der obligatorische Fahnenappell abgehalten. Danach ging‘s in die Turnhalle. Dort zogen wir unsere Sportsachen an. Am Vormittag wurde dann wieder ein sportlicher Einzel- Wettkampf abgehalten. 60m-Lauf, Weitsprung, Weitwurf, Klimmzüge … usw.

Das Mittagessen kam dann in Essenskübeln. Dieses Mal von der GST (Gesellschaft für Sport und Technik). Es gab leckeren Linseneintopf. Vier Jungs, etwa im Alter von 17 bis 19 Jahren, und ein viel älterer Mann sind erschienen. Die vier Jungs der GST kämpften am Nachmittag auch mit den einzelnen Gruppen im sportlichen Mannschafts- Wettkampf mit. Leider machte es weniger Spaß, als mit den sowjetischen Soldaten des Vorjahres. Wir, also die Gruppe 5a (der ich 1978 angehörte), belegten nur den 4. Platz, und somit den letzten. Egal … war ja nur Spaß und Spiel.

Nach diesem Wettkampf holten die GST- Jungs ein Motorrad mit Beiwagen aus ihren LKW- Mannschaftswagen und fuhren mit uns wild durch das Heimgelände.

Tja, gegen 19:oo Uhr war dann der ganze Trubel vorbei. Es ging wieder über, zum Tagesgeschehen. Abendhygiene, Tagesauswertung, Aktuelle Kamera und dann ins Bett. Die tägliche Dienstaufgabe und das Schuheputzen fielen aus. Bei den Nachrichten der Aktuellen Kamera fielen uns die Augen schon zu. Wir waren ab o7:45 Uhr in irgendeiner aktiven Aktion beschäftigt. Immer Draußen, ohne Stillstand. Ich glaube, die Nachtwache hatte in dieser Nacht die ruhigste Nachtschicht des Jahres.


Der Tag des Lehrers (12. Juni) war 1977 ein Sonntag und 1978 ein Montag. Wir haben unseren Lehrern dann am Montag eine Freude bereitet. Zu Beginn einer jeden Unterrichtsstunde spulten wir ein kleines etwa 5-minütiges Kulturprogramm ab, das auf das jeweilige Fach abgestimmt war. Dieses Kulturprogramm wurde natürlich in der nachmittäglichen Freizeit (Ende Mai / Anfang Juni) von und mit unseren Erziehern einstudiert. Immerhin es waren 6 unterschiedliche Kulturprogramme je Klasse, da wir ja 6 Unterrichtsstunden am Tag hatten. Im Mathematikunterricht sagten wir ein Gedicht über die Null auf. Jeder nur eine Zeile. Meine war die 1. Zeile: „Warum ist die Null so wichtig, die Null, die ist doch Nichts.“ Mehr habe ich nicht vom Gedicht behalten. Im Musikunterricht sangen wir ein Liedchen, (welches weiß ich auch nicht mehr), in Heimatkunde sangen wir Die Heimat hat sich schön gemacht … und so zog sich das über diesen Schultag in den einzelnen Fächern hin. Jeder Lehrer bekam dann noch eine selbstgebastelte Grußkarte und einen Blumenstrauß (den unsere Erzieher besorgten) überreicht. Zum Dank hatten wir dann einen Unterricht, der vom Lehrplan abwich. In der Mathematikstunde errechneten wir beispielsweise dann, wieviel Trabbis wir bräuchten um eine Trabbischlange von der Erde bis zum Mond zu errichten. Der Nachmittag verlief dann wieder genau so, wie jeder andere Montag an einem Schultag.


Aufgabe: Wieviel Trabants (TAnz) werden benötigt, um die Strecke (M) vom Mond bis zur Erde auszufüllen? Dabei steht jeder Trabant (T) genau und ohne Abstand hintereinander.
gegeben: Länge Trabant (TL) = 56 m/T, Strecke Mond-Erde (M) = 384400,00 km

gesucht: Anzahl der Trabanten (TAnz) in der Strecke (M)

Vorüberlegung: Der Mond umläuft die Erde nicht in einer Kreisbahn, sondern in einer Ellipse. Daher variiert der Abstand zwischen Erde und Mond. Nach einer Erdumkreisung beginnt die elliptisch verlaufende Bahn wieder von Neuem. Dadurch ist eine Berechnung des mittleren Abstandes möglich gewesen. Sie beträgt ≈ 384400 km.

Formel: TAnz = M : TL

Lösung:

TAnz = M : TL

TAnz = 384400km : 3,56m | • 1000 (von km in m)

TAnz = 384400000m : 3,56m/T | : m (Meter wegkürzen)

TAnz = 384400000 : 3,56T

TAnz = 107977528,1T

TAnz ≈ 107977528T

Antwort: 107977528 Trabanten werden, wenn sie genau hintereinander und ohne Abstand aufgestellt sind, benötigt, um eine Strecke des Abstandes zwischen Mond und Erde auszufüllen.


Dann kam der o1. Juli ran, der Tag der Volkspolizei (VP). Gleich am ersten Tag der Sommerferien bzw. nach der Ausgabe der Schuljahreszeugnisse wurde dieses Ereignis begangen. Die VP erschien dann auch. In einem Streifenwagen mit Blaulicht und Tatü-Tata. Sie gaben uns Tipps zur Verhinderung von Diebstählen. Man sollte alles immer schön verschließen, nichts rumliegen lassen; denn Gelegenheit macht Diebe. Wir empfanden diese Tipps als unsinnig. Das ganze Heim war offen. Wir hatten keine Schränke die man verschließen konnte. Nicht einmal die Räume wurden verschlossen (bis auf die Administration). Ich wurde nie bestohlen. Hätte ja auch keinen Sinn. Sollte man Jemanden beispielsweise den Kugelschreiber stehlen, kann man ihn ja gar nicht benutzen. Der Bestohlene findet ihn dann ja beim Stehlenden wieder. Dann hätte es aber Ärger gegeben. Vieleicht war das aber auch eine Schulung für das Leben nach dem Heim.


Im August wurde der Gedenktag an das Potsdamer Abkommen begangen. Auch zu diesem Zeitpunkt waren noch Sommerferien. Wie der Gedenktag nun genau ablief, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich war zu diesem Zeitpunkt zu Hause, im Urlaub. Ich denke mal, dass es so ablief, wie der Tag der Gründung der SED.


17:45 Uhr, am Sonntag und am Feiertag

Gegen 17:45 Uhr am Gedenk- und Feiertag bzw. am Sonntag holte uns der tägliche Alltagstrott wieder ein. Tägliches Schuheputzen, Abendbrot essen, die Abendhygiene und die Dienstaufgabe standen dann auf dem Plan.


18:oo Uhr, am Sonntag und am Feiertag

Abendbrotzeit: Ich saß am Vierertisch. Das Abendbrot war reichlich. Auf dem Tisch standen dann ein Brotkorb und eine Platte mit Wurst, mit Buttersternchen und mit Käse. Unser Axel S. hatte einige Nahrungsmittel auf einem gesonderten Teller angerichtet bekommen, da er an einer Stoffwechselkrankheit litt.

Die Wurstplatte war jedoch nicht irgendwie portioniert. Meist war die Platte so angerichtet, dass nicht durch die Anzahl der am Tisch sitzenden Personen geteilt werden konnte. Beispielsweise lagen auf der Platte des Viermanntisches drei Salamiwurstscheiben, fünf Teewurststücke, zwei Schmelzkäseecken und Weiteres mehr. Das war auch kein Problem, denn ein Jeder hatte ja seine Vorlieben. Und es konnte nachgeholt werden. Vorausgesetzt, die Platte des jeweiligen Tisches war leer. Wenn zum Beispiel keiner der am Tisch sitzenden Teewurst mochten, musste sich mindestens einer opfern, auch diese zu essen. Aber das kam, ich kann mich jedenfalls nicht an eine solche Situation erinnern, nicht vor. Bevor nachgeholt wurde, wurden zuerst auf den Nachbartischen die wohl möglichen Reste verbraucht. War dort auch nichts mehr zu holen, gingen wir zur Essensausgabe. Brot und Wurst, aber auch Tee, konnte nachgeholt werden. Nur Butter gab‘s nicht als Nachschlag. Auch das stellte kein Problem dar, denn unter der, wir nannten es Schmierwurst (Teewurst, Leberwurst, Schmelzkäse), legten wir ohnehin keine Butter. Beim Nachholen konnten wir auch Wünsche äußern, also beim Küchenpersonal. Das Küchenpersonal nahm dann die riesige Wurst aus dem Kühlschrank und schnitt uns die gewünschte Wurst scheibchenweise ab.


18:3o Uhr, am Sonntag und am Feiertag

Um 18:3o Uhr war das Abendbrot beendet. Nun hieß es, sich zu sputen. Denn das Abendprogramm um 19:oo Uhr im Fernsehen wollte keiner verpassen. Die Abendhygiene und die Dienstaufgabe standen an. Von der Dienstaufgabe hing es natürlich ab, ob man es überhaupt schaffen konnte.

Um 19:oo Uhr (bis 19:2o Uhr) lief am Sonntag im Fernsehen die Sendung TeleLotto 5aus35. Dort zeigten sie nach jeder gezogenen Zahl einen kurzen Unterhaltungsbeitrag. Ich wünschte mir immer, dass die Zahlen 1 (Anekdoten), 9 (Artistik), 12 (Zauberkunst), 14 (Humor), 18 (Kuriositäten), 19 (Kurzkrimi), 32 (Trickfilm) und/oder die 35 (Zirkus) gezogen werden.


19:2o Uhr, am Sonntag und am Feiertag

Tagesauswertung: dieses Ritual wurde täglich durchgezogen. Ob Sommer oder Winter; ob Herbst oder Frühling; ob Schulzeit oder Ferien; Wochenende oder Feiertag; egal: um 19:2o Uhr ist die Tagesauswertung abgehalten worden. In 1o Minuten waren wir damit durch. Jeder erhielt seine Tagesnote, hier und da wurde noch gerügt oder gelobt.
Und dann ging der Fernseher wieder an. Auf dem Programm standen die Nachrichten der Aktuellen Kamera. Das war für uns die außerschulische Rotlichtbestrahlung, auch am Sonntag.


2o:oo Uhr, am Sonntag und am Feiertag

Fernsehabend: von 2o:oo Uhr bis 2o:55 Uhr konnten wir dann noch irgendeinen Film sehen. Jedenfalls diejenigen, die bei der Tagesauswertung kein Fernsehverbot bekommen hatten. Dabei wollte so gar nicht rechte Freude aufkommen. Die Filme liefen meistens bis 21:3o Uhr. Also quasi mitten in der Handlung wurde der Fernseher abgeschaltet. Dann hieß es noch schnell mal auf’s Klo und dann ab in die Pupsmolle, wie wir es immer so schön sagten.

Einige Male kam es vor, dass wir den Film bis zum Ende sehen durften. In den Ferien und am Samstag eigentlich immer. An den Schultagen und am Sonntag hat der Erzieher sehr oft mit der Nachtwache verhandelt. Diese musste sich dann ja um das Zubettgehen kümmern; meist um mehrere Gruppen gleichzeitig. Aber wir waren schlau genug, uns den nächsten Fernsehabend nicht zu verderben. Wir waren dann wieder ein Selbstläufer. Noch während des Filmabspanns schalteten wir den Fernseher ab und lagen, wenn die Nachtwache zur Kontrolle hoch kam, schon im Bett. Den abendlichen letzten Toilettengang erledigten wir dann nacheinander auf dem WC des obersten Treppenpodestes während des Filmes.


21:oo Uhr, am Sonntag und am Feiertag

Nachtruhe: Warum wir zu unseren Betten Pupsmolle sagten, wissen wir selber nicht. Wenn ich im Bett lag, fühlte ich mich wohl. Ich hing noch meinen Gedanken nach und dann schlief ich zufrieden und geborgen ein; mit meinen kleinen Teddybär, der Strelie heißt (den hab ich heute noch, er steht in meinem Schlafzimmer auf dem Wandregal).


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Kommentare 4

  • Leider haben sich kleine Schreibfehler eingeschlichen. Die sind aber nicht so schlimm und verändern auch nicht den Sinn der Aussage.

    • Das stimmt in der Tat und tatsächlich, danke für das Buch. Es liest sich exakt so und was die präzise minutiöse Darstellung sämtlicher Tagesaktivitäten anbetrifft, man kommt aus dem Staunen nicht heraus und beginnt zu verstehen, was du mit Sätzen, in denen du von Hochbegabung und schulischer Unterforderung im Thema, "war wirklich alles so schlimm" zum Ausdruck brachtest. Ich kommentierte es schon einmal, wie ich die Auflistung des Tagesablaufes bewertete und ergänze, du bist einmalig darinnen, denn wer es auf die Minute beschreiben kann. Es verdient Respekt. Andererseits gab es natürlich exakt ausgearbeitete Abläufe. Es lag in der Natur der Sache, denn ein System setzt genaue Abläufe voraus. Sonst wäre es kollabiert. Ich lese deinen Roman nicht neutral, denn wie du weißt, war auch ich im Spezialkinderheim und kann vieles nachempfinden. Danke erneut für die Rückblicke. Gruß Axel

    • Vieles was du beschrieben hast kommt mir sehr bekannt vor. Was in dem zusammenhang zurück gekommen ist sind die Kartoffel und Zwiebelnachlesen die wir in der LPG unternommen haben.


      Schön wär es Leute aus meiner Zeit dort zu treffen, den irgendwie hab ich ausser kleinen winzigen fetzen nichts an Erinnerungen aus dieser zeit.

      Weder Namen ( Namen konnte ich schon immer nicht im Kopf behalten) noch volle Begebenheiten. Fussball war für mich schon immer ein graus, konnte damit nichts anfangen. Zum Glück gabs für mich da noch andere Sachen. Bücher, Federball und Volley, irgendwer fand sich immer und bis auf ein paar wenige male konnte ich dem Fussballspeil entgehen. Freiwillig nahm mich so wieso keiner ins team auf. Ich war nicht schnell aber hatte ausdauer. Konnte lange laufen bei gleicher Geschwindigkeit was mich im Sportuntericht auf der Bahn immer unter die ersten 3 brachte, Sprints war ich immer unter den letzten. aber so hatte jeder seine Stärken und Schwächen.

    • Hallo Jan1975.


      Vom Nicht-Fußball-spielen-wollen kann ich ebenfalls ein Liedchen mitsingen. Zum Glück gab es in meiner Gruppe den Axel S., der ebenfalls kein Fußball mochte. Wir waren 16 Jungs in der Gruppe. Fielen 2 Jungs aus, war die Anzahl wieder durch 2 teilbar. Wir (Axel S. und ich) haben in unserer Freizeitbeschäftigung kein Fußball gespielt.


      Im Sportunterricht mussten wir mitmachen; ein Jeder in einer Mannschaft. Wir wurden dann von unseren Manschaftskameraden in das Tor gestellt. Sie hofften, dass wir dort am wenigsten Schaden anrichten könnten. Sie spielten dann so, dass der Ball möglichst nicht in die Nähe des eigenen Tores kam. Dieses gelang natürlich nicht immer, denn die gegnerische Manschaft wollte den Ball ja auch nicht in ihrer Tornähe haben. Ich habe selten einen Ball halten können. Auch Axel S. nicht. Die Spielergebnisse waren dann immer sehr hoch. Einen Spielstand habe ich immer noch im Kopf. Wir erzielten den Stand von 18 : 19 ; und das in einer halben Stunde.


      Die Einen haben halt die eine Stärke, die Anderen haben die andere Stärke; aber wir alle haben unsere Schwächen.