Beiträge von Heimkind

    Von dieser Nachkriegsfoltereinrichtung kann ich ein Lied singen. Es war im Juli 1960. Ich war damals neun Jahre alt:
    Nach der Ankunft im Heim mussten alle Kinder ihre Seife und Zahnpasta abgeben. Gewaschen wurde sich fortan mit Kernseife. Zum Zähneputzen (nur morgens) mussten wir unsere Zahnbürsten nacheinander in ein Gefäß tauchen, in der wohl so etwas wie Zahnpasta war. Ja und morgens mussten wir uns in einer Waschküche splitternackt aufstellen, wo wir nacheinander mit einem dicken Wasserschlauch von einer Gummibeschürzten Heimhexe aus einigen Metern Entfernung mit eiskaltem Wasser von Kopf bis Fuß „gewaschen“ wurden. Im Nachhinein sage ich mir, dass das einer Behandlung wie in einem KZ glich. Diese Behandlung war übrigens mitunter schmerzhaft, nämlich dann, wenn der harte Wasserstrahl das Geschlechtsteil traf.
    Ach ja, auch mitgebrachtes Taschengeld mussten wir bis auf den letzten Pfennig abgeben. Diejenigen, die von ihren Eltern angebl. nichts mitbekommen hatten, wurden gefilzt. Koffer, jede Hosentasche, Schuhe… alles, wo man nur etwas verstecken konnte wurde durchsucht. Von dem uns abgenommenen Geld haben wir nichts wieder gesehen. Davon wurden dann für jedes Kind zwei Ansichtskarten gekauft, die jeder mit einem an die Tafel geschriebenen Text zu versehen hatte. Dann folgte die Zensur. Schrieb jemand etwas anderes oder einen Satz mehr, wurde die Karte vor den Augen Aller zerrissen. Für den Rest des Geldes kauften die Schwestern für uns Andenken für zu Hause ein. Da hatten wir kein Mitspracherecht. Ich bekam eine künstliche Muschel, die heute noch irgendwo auf dem Boden rumliegen muß.
    Da wir Kinder der Nachkriegszeit wohl alle ein wenig mager waren und zunehmen sollten, war Essen angesagt, viel Essen. Morgens begann das mit einer immer gleichen, fürchterlich schleimigen Suppe aus einem Gemisch aus Milch und aufgekochtem Getreide. Ich musste mich wiederholt übergeben, so schlimm war es, das Zeugs runter zu kriegen. An das Mittagessen kann ich mich nicht mehr erinnern. Muss wohl irgendwie erträglich gewesen sein. Aber Abends! Wirklich jeden Abend ohne Ausnahme gab es Bratkartoffeln am Stück. Ein zusammengepappter Haufen Kartoffeln, der von weitem eine Bratpfanne gesehen hatte. Das fürchterliche dabei: Dieser Kartoffelmatsch schwamm in der Soße von süss-sauer eingelegten Kürbissen, die es grundsätzlich dazu gab. Die Kürbisse wuchsen direkt am Haus und wurden von den Heimschwestern hochgepäppelt. Und wieder würg, kotz! Und das Allerschlimmste: Nicht nur ich musste mußte das Erbrochene wieder essen. Dabei wurde uns gedroht, dass wir noch einen Teller davon bekämen, wenn wir das nicht drin behalten. Deshalb bestand die strikte Anweisung, wenn überhaupt, dann in den Teller zu kotzen, von dem wir aßen.
    Nicht genug, dass wir Kinder in dem Heim mit Gewalt gemästet wurden wie polnische Gänse. Das Schlimmste für mich war die „Liegekur“ (nannte sich wirklich so), die immer dann angesagt war, wenn wir Kinder zu wenig
    aßen. Dadurch sollte der Appetit angeregt werden. Diese Liegekur sah folgendermaßen aus: Im Garten des Heimes wurden in der prallen Sonne Liegen aufgestellt, auf denen wir Suppenkasper uns mit eng an den Körper
    angelegten Armen hinlegen mussten, während die anderen Kinder am Strand waren. Dann wurden wir mit mehreren Wolldecken stramm vom Hals bis zu den Füßen dermaßen eingewickelt, dass wir uns nicht mehr rühren konnten. Jetzt war schwitzen angesagt. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so liegen mussten. Ich weiß nur, dass ich ich nicht mehr leben wollte. Die Enge, das Eingeschnürt sein in diesen Decken bereitete mir Angst. Ich
    kann mich noch gut erinnern, wie ein Junge nach solch einer „Liegekur“ auf dem Weg ins Haus ohnmächtig zusammenbrach.
    Alle drei oder vier Tage wurden wir gewogen. Wehe, wir hatten nicht zugenommen! Dann flogen wir mit einer Ohrfeige von der Waage.
    Problem Heimweh: Einige Kinder hatten Heimweh und weinten nachts in ihren Betten. Zum Glück hatten die Betten Rollen. Anstatt diese Kinder zu trösten wurden sie mit ihren Betten in den Waschraum oder Putzmittelraum geschoben. Da konnten sie dann weinen wie sie wollten. Schlimm war immer der Morgen vor dem Frühstück. Bevor wir mit dem Frühstücken begannen kam die Oberhexe des Hauses in den Speisesaal mit einem Zettel und verlas die Namen der Kinder, die sich tags zuvor nicht getreu den Heimregeln verhalten hatten. Beispiele für solche Sünden: Beim Essen übergeben, nachts geweint, beim Spazieren gehen die Hand
    eines anderen Heimkindes losgelassen, gesprochen, wenn nicht gesprochen werden durfte (das war ganz häufig der Fall) und weitere Sünden). Für jede dieser begangenen Sünden gab es eine bestimmte Anzahl von
    Ohrfeigen, die dann wohl als Abschreckung vor allen Heimkindern verabreicht wurden. Nachdem die Oberhexe mit ihrer Bestrafung durch war und wohl ihren inneren Orgasmus hatte, durften wir frühstücken. Das war
    immer sehr bedrückend.


    Vielleicht könnt ihr verstehen, weshalb ich nach diesem vierwöchigen Horrortrip auf Wangerooge nie wieder einen Fuß auf diese Insel gesetzt habe, obwohl sich das wegen der Nähe zu meinem Wohnort anbieten würde. Stattdessen ist Spiekeroog zu meiner Lieblingsinsel geworden. Wenn ich dann den Strand Richtung Osten entlang wandere und ich meinen Blick ganz am Ende der Insel auf den Westturm von Wangerooge richte, kommen all diese Erinnerungen wieder hoch. Was haben wir Kinder euch nur angetan, dass wir von euch dermaßen gedemütigt und misshandelt wurden?
    Übrigens: Das Heim befand sich seinerzeit in der Trägerschaft der Stadt Oldenburg. Die Heimleiterin war allerdings nach meiner erinnerung eine evangelische, evtl. auch katholische Schwester, ebenso das meiste Personal. Wir mussten alle dort Bediensteten mit Schwester XY anreden. Die meisten trugen Schwesterntracht.