In der Wildstraße begann mein "Leben"

  • Ich war in diesem Heim - vom 1. bis 5. Lebensjahr. Man sagt immer so salopp, man würde sich nur bis etwa zum 4. Lebensjahr zurück erinnern. Ich erinnere mich zurück, bis zu dem Tag, an dem ich meine gelben Hausschuhe mit roter Sohle, blauen Punkten und einem Riemchen mit Druckknöpfen bekam. Laut meiner Oma, bekam ich die mit knapp 2 Jahren. An diesem Tag begann das Martyrium meines Lebens. Ich erinnere mich, dass ich zu klein war, diese Hausschuhe selbst zu schließen.


    Aber erst einmal zu den Anfängen meines Lebens: Meine Eltern waren politische Häftlinge. Meine Mutter war mit mir schwanger und gebar mich im Gefängnis. Ich wurde ihr direkt weggenommen und kam in ein mir unbekanntes Kinderheim. Mit dem 1. Lebensjahr wurde ich dann in die Wildstraße umquartiert. Meine Großeltern kämpften lange darum, mich zu sich nehmen zu dürfen, bekamen aber nur Absagen. Im 1. Lebensjahr durften sie mich auch nicht besuchen. Das erste Mal erhielten sie die Erlaubnis, mich zu besuchen, als ich bereits 1,5 Jahre war. Sie besuchten mich dann 14-tägig und ab dem 2. Lebensjahr durfte ich auch die Wochenenden bei ihnen verbringen.


    Zurück zu den Hausschuhen: Jeden Morgen mussten wir uns alleine anziehen. Das ging wohl schon ganz gut. Jedenfalls erinnere ich mich da nicht an irgendwelche Bestrafungen. Irgendwann bekam ich besagte Hausschuhe (die einem anderen Kind nicht mehr passten). Ich bekam sie nicht zu. Der Druckknopf überforderte mich und ich musste im Flur sitzen bleiben, bis ich sie zu hatte. Es gab kein Frühstück und wenn sich niemand erbarmte, mir die Schuhe zu schließen, auch kein Mittagessen. Meistens weinte ich dann, weil mir inzwischen die Finger und die Füße vom, immer wieder auf den Druckknopf drücken weh taten. Wenn ich weinte, wurde ich in den Gruppenschlafraum gebracht und musste weiter an meinen Schuhen "arbeiten". Wenn ich vor dem Mittagsschlaf in diesen Raum gebracht wurde, dann hatte ich Glück, denn dann konnte ich die Schuhe ausziehen, wenn alle anderen Kinder zum Schlafen kamen und "durfte" selbst auch in mein Bett. Von den Qualen geplagt, lag ich aber oftmals im Bett und weinte. Hörte ich nach mehrfachen Drohungen nicht auf, drohte man mir, mich zum Huhmann zu bringen. Ich wusste nicht, was der Huhmann war und allein die Aussprache der Drohung machte mir Angst und ich wurde sofort ruhig. Meist schluchzte ich dann leise unter der Decke in mich hinein, so dass man mich auf dem Flur nicht hören konnte. Wenn ich Glück hatte, kam nach dem Schichtwechsel eine andere Erzieherin, die uns nachmittags aus dem Bett holte und wir wie selbstverständlich, meine Schuhe schloss. Leider war das nicht immer der Fall.
    Ich erinnere mich, dass ich wieder einmal im Flur saß und die verhassten Schuhe versuchte zu schließen. Ich bekam das nicht hin und wie immer kam dann die Heulsuse (so nannte man mich inzwischen) durch. Die Erzieherin brüllte mich an, dass ich leiser heulen sollte, damit die anderen in Ruhe frühstücken könnten oder sie bringe mich zum Huhmann. Es war irgendwann im Winter und der Flur war kalt. Meine Hände waren kalt, meine Füße waren kalt. Ich konnte das Heulen nicht bremsen. Die Erzieherin schnappte mich und kündigte mir an, dass sie mich jetzt zum Huhmann bringe. Sie hielt mich wie einen toten Karnickel an den Beinen, mit den Kopf nach unten hängend und brachte mich in die Küche die sich im Keller befand. Ich wand mich schreiend, wie ein Aal. Ich erinnere mich, dass ich nicht mehr richtig schreien konnte, aber wollte. In der Küche angekommen stand dort ein, für meine damaligen Verhältnisse, riesiger Kochtopf auf dem sich ein Deckel befand. Sie schrie mich an, ob ich meine Schuhe nun zumachen wolle oder da hinein möchte. Da drin sitzt der Huhmann und wartet, dass er mich fressen kann. Ich muss nicht erklären, wieviel Angst ein 2-jähriges Kind in dieser Situation empfindet. Ich nickte, so gut es kopfhängend ging. Sie drehte mich um, am Arm packend und ließ mich fallen mit den Worten: Hoch mit dir und Schuhe zu. Obgleich ich überhaupt keine Kraft mehr hatte und mir mein Bein weh tat, auf dass ich viel, als sie mich fallen ließ, bekam ich den Schuh wie aus Geisterhand geschlossen. Anschließend durfte ich mit in den Gruppenraum, aber die anderen Kinder durften nicht mit mir spielen.
    Dieses Prozedere wiederholte sich beinahe regelmäßig.
    Ich erinnere mich, dass ich zu meinem 3. Geburtstag (den ich bei meinen Großeltern feiern durfte) eine Babypuppe von meiner Oma bekam. Ich veranstaltete das größte Theater, als ich zurück ins Heim musste und so ließ mich meine Oma die Puppe mit ins Heim nehmen. Ich hatte an diesem Tag mein neues kariertes Kleid an, welches ich ebenfalls von Oma zum Geburtstag bekam. Als ich zurück ins Heim kam (meine Oma schaffte mich nie mit weg, da es ihr das Herz brach, wisch von mir verabschieden zu müssen, also blieb diese undankbare Aufgabe meinem Opa überlassen), brüllte ich beim Abschied von meinem Opa, was das Zeug hielt. Nachdem mein Opa das Haus verlassen hatte. Schaffte man mich wie so oft vorher schon, zur Strafe für mein Verhalten erstmal zum Huhmann, nicht ohne mir vorher meine Puppe wegzunehmen, die ich nie wieder sah.


    Im Februar 1966 gebar meine Mutter (nach Vergewaltigung im Gefängnis - durch einen Wärter) meinen Bruder. Ich erinnere mich, dass ich ihn mit meinen Großeltern besuchte, als er ca. 2 Jahre war. Irgendwie entstand zwischen ihm und mir ein Band, dass uns, solange er lebte, fest aneinander fesselte. Wir durften im Garten spielen und bekamen sogar Eis. Er war offensichtlich in einem Heim untergebracht, in dem man Kinder normal behandelte. 3 Stunden spielten wir und es war wunderbar. Als ich mich von ihm verabschieden musste, hielt er sich an mir fest und schrie. Natürlich stimmt ich da mit ein und wir wollten unbedingt zusammen bleiben. Man trennte uns dann gewaltsam. Ich durfte ihn, daraufhin, nie wieder sehen. (Während der Heimzeit).


    Ich erinnere mich, dass ich einma - es war bei irgendeiner Gruppenmahlzeit, dringend pipi musste und nicht zur Toilette durfte. Als ich anfing, am Tisch zu weinen, bekam ich eine "gescheuert". Vor Angst und Schreck machte ich in die Hose. Die erzieherin zog mich fluchend und schreiend, am Ohr in den Waschraum. Es war wohl auch ein Winter. Ich erinnere mich an die hässlichen blauen Glasfliesen, die Kälte und das kalte Wasser. Ich musste mir meine Sachen ausziehen und sie duschte mich mit eiskalten Wasser ab. Anschließend musste ich meine Hose mit dem kalten Wasser waschen. Danach durfte ich mich frisch anziehen und wieder in den Gruppenraum. Als ich reinkam brüllten alle Kinder: Die Heulsuse hat in die Hosen gepinkelt.


    Ich hatte stets und ständig einfach nur den Wunsch, allen gerecht zu werden, um bloß keine Strafen zu bekommen. Aber irgendwie gelang mir das nie. Ich sprach nicht, ich spielte nicht, ich sah mir Bücher an und träumte mich oftmals in die Bilder hinein.


    Im Dezember 1969 durfte ich aus dem Heim. Meine Mutter war bereits im Januar entlassen wurden. Durfte mich aber erst im Dezember abholen. Sie konnte sich bemühen, wie sie wollte, eine Bindung zu ihr habe ich nie aufgebaut. Ich habe heute ein sehr gutes, aber eher freundschaftliches Verhältnis zu ihr. Aber fühle ich mich als Tochter??????????? Eher nicht. Mein Vater bekam lebenslänglich. Ihn lernte ich kennen, als ich 16 war. Bis heute ist zwischen uns nie eine Bindung entstanden. Ich kenne ihn, aber er ist für mich ein entfernter Bekannter - mehr nicht.


    Als ich in die Schule kam, wurde mir allmählich klar, wer meine Eltern waren, denn meine Mitschüler wussten mehr über sie, als ich. Die Zeitungen waren voll, von dem Prozess und in der DDR hat man bei politischen Vergehen nichts unversucht gelassen, die die Betroffenen zu denunzieren wo immer das geht. Ich fand keine Freunde unter meinen Mitschülern....
    Ein Mitschüler erkannte mich. Er war mit mir gemeinsam im Heim und ich hatte ab sofort auch in der Schule den Namen Heulsuse.


    Seltsamer Weise erinnere ich mich an keine gute Stunde im Heim, obwohl es die sicher gegeben hat. Die Angst und die Schrecken der Zeit haben mich geprägt. Ich bin noch heute stets bemüht, allen gerecht zu werden und fühle mich absolut schlecht, wenn ich einmal "versage" und ich fühle mich sehr schnell als Versager.


    Manchmal habe ich das Gefühl, dieses kleine Mädchen hat sich von mir abgespalten und ist noch heute in diesem Heim und wartet sehnsüchtig darauf, befreit zu werden. Oftmals, auch nach 51 Jahren, träume ich davon, dass ich (im aktuellen Alter) vor dem Heim stehe, an die Tür klopfe und das Mädchen schreien höre. Ich will sie rausholen, aber niemand öffnet. Stattdessen höre ich in der Ferne Gelächter, was immer näher kommt, bis dieses Gelächter lauter ist, als das Schreien.....


    Im Großen und Ganzen kann ich sagen, dass ich, auch mit Hilfe von Psychologen, heute ganz gut damit umgehen kann. Aber ich habe es nie wirklich verarbeitet. Ich kann die Zeit in einer Schublade eingraben, aber von Zeit zu Zeit windet sie sich immer wieder hervor und erinnert mich daran, dass dieses Kind noch nicht befreit ist.......

  • Hi Blacky,


    die Schuhe waren ein Nebenkriegsschauplatz.
    Es ging nie wirklich um die verkack... Schuhe, sondern einzig und allein darum, Deinen Willen zu brechen.
    Sie wollten Dich uniform..einheitlich machen.
    So ganz nebenbei durftest Du, wie sie, kein Spaß am Leben haben, sowas geht nicht und schon gar nicht in Deutschland, daran hat sich bis heute nichts geändert.
    Wer Spaß hat, wird schief angeguckt.


    Besser ist, kollektives jammern, "Deutschland ein einzig Jammertal" lautet der Titel eines Buches.
    Die meisten sind auch heute noch erst wirklich zufrieden, wenn es Dir richtig schei... geht.
    Das gibt ihnen das Gefühl, etwas besseres zu sein, weil es ihnen besser geht.
    Schon alles sehr lala, aber so sind die meisten eben.


    Sei auf jeden Fall hier herzlich willkommen. Wenn ich das richtig sehe, ist das Dein erster Beitrag hier.


    Ganz herzlich


    Peter

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