Mit Angst erzogen

  • Mit Angst erzogen
    Erinnerungen an ein Leben im Heim
    Christian Unger


    Erika Paetsch wuchs mit Demütigung und Gewalt auf. Über die Anerkennung des vielfach erfahrenen Unrechts spricht morgen der Bundestag.



    Hamburg. Erika Paetsch erzählt auch von schönen Momenten. Vom ersten Advent zum Beispiel, als die Erzieherinnen Tannenzweige im Wald sammelten und mit Sternen oder Engelchen schmückten. Eine von ihnen ging abends durch die Räume und spielte Weihnachtslieder auf der Mundharmonika. Am Morgen lagen die geschmückten Zweige und ein Stück Schokolade neben den Betten der Kinder. Wer mit der 67 Jahre alten Paetsch über ihre Kindheit im Heim spricht, hört auch diese fröhlichen Geschichten.
    Vor allem aber spricht sie über Demütigung, Schläge und Misshandlung. "Einmal gab es eine Leiterin, die mich fast jeden Nachmittag in den Wald neben dem Heim mitnahm", erzählt Paetsch. Sie musste sich die Hose ausziehen und die Leiterin schlug ihr mit einem Ast auf den Po. Dann zog sich die Leiterin aus - und Paetsch sollte zuschlagen. "Die Angst vor einer Bestrafung war so groß, dass ich niemandem etwas davon erzählt habe", sagt sie. "Und ich hatte ja auch niemanden, der mir zugehört hätte."
    Wie Paetsch lebten von 1949 bis 1975 zwischen 700.000 und 800.000 Säuglinge, Kinder und Jugendliche in Heimen der Kirchen oder der Gemeinden. Vor allem in den frühen Jahren der Bundesrepublik herrschte bei der Erziehung der Zeitgeist der Züchtigung, des Drills und der Willkür. "Es gab ein hartes Straf- und Ordnungsregime", sagt der Bochumer Historiker Uwe Kaminsky zur Pädagogik in den Heimen. Gewalt wurde auch mit der Religion begründet. "Da gibt es beispielsweise die Vorstellung eines strafenden Gottes, der alles sieht", sagt Kaminsky. Demütigung war an der Tagesordnung, Misshandlungen und Missbrauch kamen in den Heimen der Nachkriegszeit immer wieder vor. Die Kinder seien mit Angst erzogen worden, sagt Kaminsky. Und niemand hörte ihre Angst. Die Heime wurden oft nur unzureichend von den Behörden kontrolliert, heißt es in dem Bericht des runden Tisches "Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren".
    Paetsch kam mit Kinderlähmung zur Welt. Ihre rechte Körperhälfte kann sie nur eingeschränkt bewegen. Ihre Fingerspitzen sind gekrümmt. Manchmal greift sie mit beiden Händen das Glas vor ihr auf dem Tisch. Kurz nach ihrer Geburt wuchs Paetsch bei Pflegeeltern auf. Erst als sie längst erwachsen war, erfuhr sie von einer Tante, dass ihre Mutter sie um jeden Preis loswerden wollte. Mit vier Jahren kam Paetsch zum ersten Mal ins Heim, als ihre Pflegemutter schwer erkrankte. Bis zu ihrem 21. Lebensjahr wuchs sie in staatlichen Erziehungseinrichtungen in Hamburg und Schleswig-Holstein auf. Manchmal war sie nur ein paar Wochen an einem Ort, manchmal Jahre. "Ich wurde durch die Institutionen gereicht wie eine nutzlose Schachfigur", sagt sie.
    Jahrzehntelang war das Leid von Menschen wie Erika Paetsch ein Tabu. Erst 2006 drängten ehemalige Heimkinder die Politik zum Handeln. 2009 und 2010 befasste sich der runde Tisch mit der Situation in den westdeutschen Heimen nach dem Krieg.
    In einem gemeinsamen Antrag, der dem Hamburger Abendblatt vorliegt, drängen nun die Fraktionen von Union, FDP, SPD und Grünen die Bundesregierung zu schnellem Handeln. "Wir wollen als Bundestag ein klares Signal setzen für die Anerkennung des Unrechts, das vielen Heimkindern widerfahren ist", sagt Katja Dörner, die Sprecherin für Familie und Kinder bei den Grünen. Morgen wollen die Fraktionen den Antrag im Bundestag diskutieren. Noch bis zum Januar solle die Regierung den vom runden Tisch empfohlenen Fonds über 120 Millionen Euro einrichten, mit dem den Opfern vor allem Therapien finanziert werden sollen. Sowohl Bund und Länder als auch die Kirchen haben ihre Beteiligung an dem Fonds angekündigt. Die Politiker fordern zudem die Anerkennung und Entschädigung der Opfer von Gewalt in Heimen der DDR. Im Gegensatz zu ihren Leidensgenossen im Westen warten sie immer noch auf eine systematische Aufarbeitung der Vergangenheit. "Es darf keine Opfer erster und zweiter Klasse geben", sagt Dörner. Neu ist auch, dass der Antrag einen Prüfauftrag für Opfergruppen enthält, die bisher wenig beachtet wurden - Kinder in Psychiatrien, Kinder mit Behinderungen oder auch Betroffene von Misshandlungen jenseits der 50er- und 60er-Jahre.
    Doch Vertreter des "Vereins ehemaliger Heimkinder" sind schwer enttäuscht von der Politik. Die Zahlungen seien zu gering. Sie hatten eine monatliche Rente von 300 Euro gefordert. Nötig sei zudem ein Entschädigungsgesetz, das einen festen Katalog für Zahlungen festlegt. Für Erika Paetsch ist wichtig, dass sie Einblick in ihre Akte aus der Zeit bekommt. "Die Behörde sagt, dass die Akten nicht mehr existieren", sagt Paetsch. Sie glaubt das nicht.
    Früher im Heim weinte Paetsch viel. Erzählt sie heute von dieser Zeit, ist ihre Stimme ruhig. Sie verdrängt nichts. Manchmal lacht sie sogar, wenn sie davon erzählt, wie sie Erdbeeren im Garten geklaut oder Lieder gesungen haben. Dann schweigt sie für einen Moment. "Aber das war alles schon ganz schön heftig", sagt sie - und meint die Schläge, die sie und die anderen Kinder bekamen, wenn sie ihr Mittag nicht aufaßen, ihre Unterhosen schmutzig waren oder sie nicht artig "Danke" sagten. In einem der Heime sperrte die Leiterin Paetsch oder andere Kinder zur Strafe in den Kohlenkeller ein. "Es war stockfinster, und wir hatten nur unser Nachthemd an", erzählt sie. Auch im Winter. Manchmal saßen sie dort Stunden.
    Der Bericht des runden Tisches beschreibt auch den Zwang zum Essen, der in manchen Heimen so weit ging, dass die Kinder mit Gewalt zum Essen gebracht wurden. Mussten sie sich dann übergeben, wurden sie gezwungen, das Erbrochene aufzuessen. Ein Drittel der Betroffenen, die sich an die Infostelle des runden Tisches gewandt haben, berichtet von sexuellen Übergriffen.
    Nach der Gewalt, die Paetsch im Heim erlebt hat, schwor sie sich: Du wirst dich nie mehr einem anderen Menschen unterwerfen. Für sie hieß das auch: niemals zu heiraten. Erst als Paetsch 27 Jahre alt war, schlief sie das erste Mal mit einem Mann.
    Sie stolz auf das, was sie sich trotz 21 Jahren Erziehung im Heim in ihrem Leben aufgebaut hat. Paetsch arbeitete selbst als Erzieherin und bekam eine Tochter. Sie bastelt viel, singt und schreibt Gedichte. "Trudel Mutti" nennt sie die Frau, der sie das auch zu verdanken habe. Trudel Henße war die Mutter einer neuen und jungen Erzieherin. Sie schickte der kleinen Erika Pakete ins Heim, sie schenkte ihr Bücher. Bei Trudel durfte sie die Wochenenden verbringen, sie gingen gemeinsam ins Kino. Als Paetsch ihren ersten Lohn verdiente, schenkte sie "Trudel Mutti" einen Strauß Orchideen. Ihre Lieblingsblumen. 30 Mark war Paetsch das damals wert. Die Hälfte ihres Gehalts.


    Quelle: Hamburger Abendblatt

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